Der Kirschbluetenmord
hinunter, die er zuvor nur aus der Ferne gesehen hatte, und las:
Wir, deren Namen hier aufgeführt sind, geschrieben mit unserem Blut, widmen unser Leben dem Ziel, die Tokugawas zu stürzen. Tod dem Shōgun Tokugawa Tsunayoshi! Sieg und Ruhm unseren Familien, den rechtmäßigen Herrschern dieses Landes!
Die Verschwörung der Einundzwanzig:
Sano blickte von der Rolle auf und sah, daß Fürstin Niu den Kopf gehoben hatte. Ihre Augen waren von Trauer erfüllt und starrten ins Leere. Sano erkannte, daß die Fürstin endlich eingesehen hatte, daß ihr Sohn ein Verräter war. Nun überdachte sie vermutlich die Gefahren, denen er ausgesetzt war, und wog sie gegeneinander ab. Verrat durch einen seiner Diener, Gefolgsleute oder Mitverschwörer? Möglich. Tod durch die Hände der Leibwächter Tokugawa Tsunayoshis oder durch öffentliche Hinrichtung? Wahrscheinlich. Oder – falls es Masahito irgendwie gelang, den Shōgun zu töten und zu entkommen – eine gnadenlose Menschenjagd, so daß er in keinem Winkel des Landes in Sicherheit war. Der junge Fürst Niu würde ohne Ruhm sterben, ohne Ehre, durch die Hände seiner Feinde, eher früher als später und ob erfolgreich oder nicht. Oder von eigener Hand, als letzte Zuflucht, um eine Gefangennahme zu verhindern und Schmach und Schande zu entgehen. Dies alles erkannte die Fürstin. Sano konnte es daran sehen, wie ihr Gesicht zu zerfließen schien, als würden die Knochen selbst sich auflösen. Dann sagte sie mit leiser, flacher Stimme, die vollkommen anders klang als sonst:
»Er kann keinen Erfolg haben. Er wird sich nur selbst zerstören.«
Sano erkannte, daß sehr viel davon abhing, wie er diesen Augenblick nutzte. Vielleicht gelang es ihm nie, dafür zu sorgen, daß die Fürstin für die Morde bezahlen mußte, aber er konnte den Shōgun retten und viel unnötiges Blutvergießen vermeiden. Sano wählte seine Worte mit Bedacht.
»Ihr könnt Euren Sohn noch retten, indem Ihr ihn davon abhaltet, den Shōgun zu töten.«
Tränen schimmerten in Fürstin Nius Augen, als sie den Kopf schüttelte. »Ihr begreift nicht. Masahito hatte immer seinen eigenen Willen, seit er ein kleiner Junge war. Nichts und niemand konnte je seinen Eigensinn und seine Aufsässigkeit brechen. Und ich, die ich ihn geliebt und ihm alles gegeben habe – ich habe nicht den geringsten Einfluß auf ihn. Ich kann ihn nicht aufhalten.« Ihre Stimme brach und verwandelte sich in das häßliche, gequälte Schluchzen eines Menschen, der selten weint.
»Ihr müßt es versuchen«, sagte Sano behutsam. »Anderenfalls …« Er hielt inne, denn er wußte, daß er den Satz nicht zu beenden brauchte. Die Fürstin wußte so gut wie er, daß die übliche Strafe für Verrat der Tod war – nicht nur für den Verräter, sondern für seine ganze Familie. Durch ihre Macht und ihren Einfluß mochte es den Nius vielleicht gelingen, daß die Strafe für die Familie in lebenslängliches Exil und die Beschlagnahme ihrer Lehnsgebiete gemildert wurde. Doch die Nius würden den Tod selbst einer geringeren Schande vorziehen.
Die Fürstin kniete so reglos da wie aus Stein gemeißelt. Nur ihre zitternden Lippen verrieten, daß sie um Fassung rang. Schließlich sagte sie in kaum hörbarem Flüstern: »Es hätte keinen Sinn.«
»Sprecht wenigstens mit ihm«, drängte Sano. Er wünschte, er könne seine Hände in die ihren legen; eine Berührung war manchmal überzeugender als alle Worte. Statt dessen beugte er sich zu ihr hinunter, bis Eii -chan ihn fortzog. »Geht zu ihm. Sofort. Solange noch Zeit ist.«
»Nein. Er wird mir nicht zuhören. Außerdem weiß ich nicht, wo er ist. Er sagte, er würde sich mit jemandem treffen, der sich als eine der Prinzessinnen aus Die Geschichte von Genji verkleidet habe … sie wollten zusammen setsubun feiern. Masahito schien sehr aufgeregt zu sein, diesen Freund zu treffen …« In offensichtlicher Verwirrung redete die Fürstin unzusammenhängende, belanglose Dinge; doch es schien ihr gar nicht bewußt zu sein.
»Und was ist mit seinem Vater?« fragte Sano. »Wenn Ihr dem Daimyō davon erzählt, kann er doch sicher …«
»Nein!«
Fürstin Nius Beherrschung zerbröckelte. Ihre Augen wurden groß und dunkel, als würde sie irgend etwas Entsetzliches erblicken, das nur sie allein sehen konnte. Dann senkte sie den Kopf. Tränen fielen auf die Schriftrolle, als sie lautlos weinte.
Sano verspürte unerwartetes Mitleid mit ihr. Wie würde seine Mutter sich fühlen, wenn sie erfuhr,
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