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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Land vor vierhundert Jahren erfolgreich gegen den Ansturm der Mongolen verteidigt hatte. Natürlich dankte Sano den Göttern, daß Friedenszeiten herrschten, die dem Land zu Wohlstand und innerer Festigkeit verholfen hatten; doch er bedauerte die verlorene martialische Schlichtheit jener vergangenen Tage.
    Die Zeiten hatten sich geändert, und im Zuge dieser Veränderungen hatte auch der »Weg des Kriegers« eine unmerkliche Wandlung erfahren. Noch immer galten den Samurai die Ehre, der Mut, der Gehorsam und die Treue als die höchsten aller Tugenden. Noch immer trugen sie Schwerter und waren verpflichtet, ihre Fertigkeiten im Waffenkampf für den Kriegsfall auf dem höchstmöglichen Stand zu halten. Doch neben dem Treueschwur zu einem Fürsten waren die Samurai meist in ein kompliziertes und mitunter widersprüchliches Netz aus Verpflichtungen gegenüber Vorgesetzten, Verbündeten und Gönnern eingebunden – zusätzlich zu den Gelöbnissen, die sie dem Shōgun geleistet hatten. Zwar übten die meisten Samurai den Waffenkampf an besonderen Schulen – Sanos Vater leitete eine solche Akademie –, doch viele verzichteten heutzutage darauf und waren in der Folge verweichlicht, wie Yamaga und Hayashi.
    Gewiß, die Samurai wurden dazu angehalten, sich sowohl politisch zu bilden als auch militärische Übungen zu betreiben. In Friedenszeiten mußten die Energien der Samurai in zivile Kanäle geleitet werden; sowohl ihre Ausbildung als auch ihre schwindenden Einkünfte machten sie zu idealen Anwärtern für den Dienst in der Regierungsbürokratie. Doch Sano war der Meinung, daß Körper und Seele des Samurai viel von ihrer einstigen stählernen Härte verloren hatten – was unter anderem damit zusammenhing, daß die Samurai ihre Existenz heutzutage nicht mehr als immerwährende Vorbereitung für den Kampf auf Leben und Tod im Dienste ihres Fürsten betrachteten.
    Nichts in Sanos Leben hatte ihn darauf vorbereitet, einen Mordfall zu untersuchen und den Täter zu finden. Wie sollte er an diese Aufgabe herangehen?
    Während Sano sein Dilemma überdachte, bemerkte er plötzlich, daß Hayashi ihm mit ungeduldiger Stimme eine Frage stellte, was darauf hindeutete, daß er diese Frage bereits wiederholte.
    »Ich bitte um Verzeihung, Hayashi -san . Ich habe nicht zugehört. Was habt Ihr gesagt?«
    Hayashi blickte Sano fest in die Augen und sagte mit übertriebener Betonung: »Jedermann weiß, daß Lehrer ihrem Beruf deshalb nachgehen, weil sie keine anderen Fähigkeiten haben. Insofern ist es ein Segen, daß die Regierung so gut organisiert ist, daß sie sich praktisch selbst verwalten kann. Aus diesem Grunde spielt es kaum eine Rolle, auf welche Weise Stellen vergeben werden oder wie qualifiziert die Männer sind, die diese Stellen bekommen. Meint Ihr nicht auch?«
    Die Worte hingen schwer und lastend im Zimmer. Schweigen breitete sich aus, als die anderen auf Sanos Reaktion warteten. Er konnte spüren, wie ihm die Röte in die Wangen stieg, während er beobachtete, wie seine Kollegen Blicke tauschten und ein Grinsen unterdrückten. Bislang hatte Sano die dauernden Sticheleien und verschleierten Beleidigungen hingenommen. Jetzt aber – vermutlich deshalb, weil er Hayashis abfällige Meinung teilte, was seine Qualifikation betraf – loderte plötzlich heißer Zorn in ihm auf. Die Erniedrigungen und Enttäuschungen der letzten Monate brachen sich Bahn. Sano lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Doch weil ein offener Streit mit Hayashi ihm einen strengen Verweis Ogyūs einbringen würde, schwieg Sano. Denn Ogyū erwartete, daß die Arbeit der Polizeitruppe reibungslos und unauffällig vonstatten ging.
    »Manche Leute mögen dieser Meinung sein.« Sano zwang sich, mit gelassener Stimme zu antworten. »Andere sind es wahrscheinlich nicht.«
    Hayashis hämisches Grinsen ließ die Flammen von Sanos Zorn noch höher auflodern. Doch dieser Zorn brachte die Einsicht hervor, Zurückhaltung zu üben: Mochten diese Männer denken, was sie wollten – ein Lehrer und Geschichtsgelehrter besaß sehr viele nützliche Fähigkeiten! Fähigkeiten, mit der man jede Aufgabe in Angriff nehmen konnte, sogar die Nachforschungen in einem Mordfall. Wenn Sano irgend etwas über ein geschichtliches Ereignis oder eine historische Persönlichkeit erfahren wollte, befragte er Menschen, die Zeugen dieses Ereignisses gewesen waren oder die betreffende Person gekannt hatten. Bis jetzt hatte er keinen Zeugen der Morde gefunden. Aber er konnte mit den

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