Der Kirschbluetenmord
Menschen reden, die Yukiko und Noriyoshi nahegestanden hatten. Vielleicht gelang es ihm auf diese Weise, das Motiv und die Identität des Mörders aufzudecken. Er warf seine Eßstäbchen auf das Servierbrett, erhob sich und verbeugte sich zum Abschied vor den anderen.
Hachiya runzelte die Stirn. »Wollt Ihr uns so schnell verlassen?«
»Ja.« Sano blickte auf die sechs Männer hinunter. Die Feindseligkeit, die er auf ihren Gesichtern lesen konnte, erfüllte ihn mit Trauer und Sorge. Daß er es nicht schaffte, sich diese Männer zu Kameraden zu machen, ließ für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Doch Sano versuchte sich einzureden, daß die Feindschaft der anderen yoriki bedeutungslos war. Es zählte allein, die Wahrheit zu finden und einen Mörder vor Gericht zu bringen. »Ich muß in meine Schreibstube und meinen Mitarbeitern Anweisungen erteilen. Dann werde ich den Familien der Toten meine Aufwartung machen.«
Die yashiki – große, befestigte Residenzen der Daimyō – beanspruchten riesige Landgebiete im Süden und Osten des Palasts von Edo. Jedes yashiki war von einem geschlossenen Ring aus flachen Wohngebäuden umgeben, in denen nicht weniger als zweitausend Gefolgsleute des jeweiligen Fürsten lebten. Die weiß getünchten Wände waren mit schwarzen Kacheln verziert, die in geometrischen Mustern angeordnet waren; nur an einigen Stellen wurde der geschlossene Mauerring von schwerbewachten Toreingängen unterbrochen. Ebene, gerade Durchgangsstraßen – breit genug, daß man gewaltige Militärparaden darauf hätte abhalten können – trennten die einzelnen Anwesen. Auf diesen Straßen waren zahllose Samurai unterwegs, zu Fuß oder zu Pferd.
Sano ging mit raschen Schritten durch die Straßen und suchte an jedem Tor eines jeden yashiki nach dem Wappen der Fürstenfamilie Niu. Es war kälter geworden; ein bewölkter Himmel hatte sich drückend auf die Stadt gesenkt und drohte mit Schneefall. Sanos Atem kondensierte in der frostigen Luft, und obwohl er Handschuhe trug, schob er die Hände in die Ärmel seines Umhangs, um ihnen zusätzliche Wärme zu spenden. Unter dem Arm trug er das obligatorische Beileidsgeschenk: ein Paket mit feinstem Gebäck, in weißes Papier gewickelt und mit schwarzen und weißen Stoffbändern umwunden. Über ihm ragte der Palast von Edo auf, ein eindrucksvolles Gefüge aus steinernen Mauern und Ziegeldächern auf der Kuppe eines bewaldeten Hügels.
Für einen Moment blieb Sano stehen und schaute sich um. Der Anblick des Palasts, der Festungen, von denen er umgeben war, und der Vielzahl bewaffneter Männer erinnerte ihn daran, daß diese Stadt im Grunde ein riesiges Militärlager war. Die Tausende von Stadtbewohnern, die auf engstem Raum auf dem kleinen, verbliebenen freien Stück Land wohnten, das sich zwischen Sanos jetzigem Standort und dem Fluß befand, lebten nur, um der Stadt zu dienen. Edo gehörte dem Shōgun und den Daimyō.
Sano setzte den Weg fort. Er vermutete, daß Fürst Niu Masamune, seiner Macht und seinem Reichtum gemäß, in einem der yashiki in unmittelbarer Nähe des Palasts wohnte. Und dann fand er es endlich, das Wappen der Niu-Sippe: eine Libelle im Innern eines Kreises, der in roter Farbe auf eine weiße Flagge gemalt war. Schwarze Trauerbänder waren über dem Tor zu großen Schleifen gebunden. Die Libelle, das Symbol des Sieges, schien in Sanos Augen ein unpassendes Wappentier für diese Familie zu sein. Nicht nur des Selbstmordes Yukikos wegen – die Nius und ihre Verbündeten waren in der Schlacht von Sekigahara von den Tokugawas und deren Anhängern besiegt worden. Nach der Schlacht hatte man den Nius ihr seit Generationen angestammtes Lehnsgebiet entzogen. Doch Ieyasu, der erste Tokugawa-Shōgun, hatte erkannt, daß seine besiegten Feinde sich erneut gegen ihn erheben würden, falls er sich nicht mit ihnen aussöhnte. Er gab ihnen neue, aber ferne Lehnsgebiete – den Nius beispielsweise in Satsuma, weit fort von ihrem angestammten Machtzentrum. Ieyasu und seine Nachfolger hatten von den Daimyō-Sippen ein Vermögen an Tributzahlungen kassiert, während die Daimyō als Gegenleistung einen Großteil ihrer Reichtümer behalten und ihre Provinzen eigenverantwortlich regieren durften. Somit hatte Niu Masamune seinen Status als einer der hochrangigsten Fürsten behalten, wenngleich mit fernem Machtbereich; denn er zählte zu jenen Männern, deren Sippen Tokugawa Ieyasu nach der Niederlage in der Schlacht von Sekigahara den Treueid geleistet hatten und mit
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