Der Kirschbluetenmord
eine berauschende Erregung in ihm auf und verdrängte die anfängliche Enttäuschung. Die Totenfeier zu besuchen hatte ihn in Gefahr gebracht, doch letztlich hatte es sich wahrscheinlich doch gelohnt, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Midori war in Hakone – eine lange, beschwerliche Reise nach Westen über die Tōkaido, die große Handels- und Reisestraße, die Edo mit der Hauptstadt und kaiserlichen Residenz Kyoto verband und weiter bis ins ferne Osaka führte. Das war eine schlechte Nachricht, gewiß, aber zumindest wußte Sano jetzt, wo das Mädchen zu finden war. Es würde nicht leicht sein, von Magistrat Ogyū einen fünftägigen Urlaub zu erwirken; doch Sano mußte es versuchen. Außerhalb von Ogyūs Machtbereich konnte er ungehinderter vorgehen.
Zudem erhärtete der beharrliche Widerstand der Nius Sanos Verdacht, daß die Fürstenfamilie das Geheimnis um die Morde an Noriyoshi und Yukiko ungelöst lassen wollte. Und mehr noch: Daß die Nius das Mädchen so plötzlich aus Edo fortschaffen ließen, konnte nur eines bedeuten. Sie befürchteten, Midori könnte Sano den Grund dafür nennen.
13.
B
ei Tagesanbruch hatte Sano sich am Ausgangspunkt der Tōkaido an der Nihonbashi-Brücke auf die Reise begeben. In Winter-Reisekleidung – einem breiten, runden Strohhut, dicken Umhängen, Hose, Sandalen und Strümpfen sowie einem warmen Kapuzenmantel – war er nach Südwesten geritten, hinaus aus der erwachenden Stadt. Jetzt, als die Sonne den letzten, lila schimmernden Hauch der Morgendämmerung vom Himmel brannte, näherte er sich Shinagawa, der zweiten der dreiundfünfzig Postenstationen, welche an der Fernstraße zwischen Edo und Kyoto lagen.
Die breite, sandige Straße, die in der Mitte überhöht war und zu beiden Seiten von schlanken Tannen gesäumt wurde, welche in regelmäßigen Abständen angepflanzt waren, wurde enger und stieg ständig an. Weit voraus konnte Sano die vielen, von Lasten gebeugten Gestalten von Fußgängern ausmachen, die sich die Steigung hinauf nach Shinagawa mühten. Zu seiner Rechten erhob sich das Land steil bis zu den bewaldeten Hügeln. Zu seiner Linken fiel es schroff ab; in der Tiefe waren Fischerhütten zu sehen und dahinter das Meer. Im Hafen wimmelte es von Booten. Weiter draußen auf See, vor dem Hintergrund des dunstigen Horizonts, waren die schemenhaften Umrisse größerer Schiffe zu erkennen, die in tieferen Gewässern auf Fischfang waren. Meeresvögel füllten die gewaltige, kristallblaue Schale des Himmels mit dunklen, dahingleitenden Schemen und schwarzen Schwingen; die Luft war erfüllt von ihren schrillen, klagenden Schreien, und die rauschenden Brandungswogen spielten eine unaufhörliche, leise Begleitmusik.
Die reine, frische Salzluft belebte Sano und verlieh ihm neue Zuversicht und Optimismus. Ja, seine Reise würde erfolgreich verlaufen. Wenn er in Hakone eintraf, würde Midori ihm den Beweis liefern, daß Noriyoshi und Yukiko ermordet worden waren; vielleicht würde sie ihm sogar den Namen des Täters nennen.
»Augenblick, yoriki Sano -san! Ich muß mal!«
Der Ruf war zwanzig Schritt hinter Sano erklungen und riß ihn aus seiner gehobenen Stimmung. Mit einem verärgerten Seufzer zügelte er sein Pferd und blickte über die Schulter. Er beobachtete einen lächelnden, schnaufenden Tsunehiko, der auf einem großen schwarzen Klepper saß und zu ihm aufschloß. Für einen gesegneten Augenblick hatte Sano seinen Reisebegleiter vollkommen vergessen.
Unbeholfen stieg Tsunehiko vom Pferd. »Ich bin sofort wieder da, ich verspreche es.« Er eilte an den Straßenrand und zog seinen Umhang hoch.
Sano schüttelte den Kopf und beugte sich zur Seite, um die Zügel von Tsunehikos Pferd zu ergreifen, bevor es davontrotten konnte. Er beobachtete seinen Schreiber, als dieser an einen Baum pinkelte, und wünschte sich, die Reise allein unternommen zu haben. Doch er mußte sich selbst die Schuld daran geben, daß dem nicht so war.
Nach der Totenfeier für Yukiko am gestrigen Tag hatte Sano sich umgehend zu Magistrat Ogyūs Villa begeben, wenngleich ein wenig zögerlich: Sano hatte sich gefragt, ob er nicht lieber eine Zeitlang warten sollte, bevor er Ogyū um Urlaub bat. Denn sollte der Magistrat ihn auf der Totenfeier erkannt haben, war es besser, sich erst dann an Ogyū zu wenden, wenn dessen Zorn sich ein wenig abgekühlt hatte. Doch Sano verspürte ein wachsendes Gefühl der Dringlichkeit und wollte die Reise deshalb nicht aufschieben. Er befürchtete, das Geheimnis um die
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