Der Kirschbluetenmord
Morde nie mehr lüften zu können, falls er nicht rasch handelte.
Also hatte er bis nach Einbruch der Dunkelheit vor Ogyūs Villa gewartet; dann endlich waren zwei Sänftenträger um die Hausecke gebogen. Vor dem Tor stieg Magistrat Ogyū aus.
Sano begrüßte seinen Vorgesetzten. Zu seiner Erleichterung erwähnte Ogyū die Totenfeier mit keinem Wort. Schließlich trug Sano sein Anliegen vor: »Ehrenwerter Magistrat, ich muß Euch bitten, mir fünf Tage Urlaub zu gewähren. Wie Ihr wißt, geht es meinem Vater nicht gut. Sein Arzt hat mir geraten, eine Pilgerreise zum Heiligtum in Mishima zu machen, um für die Genesung meines Vaters zu beten.«
Es hatte Sano in eine moralische Zwangslage gebracht, sich eine Ausrede zurechtlegen zu müssen. Er haßte Lügen, Täuschungen und Verstellungen. Doch in den letzten zwei Tagen hatte er immer wieder zu solchen Mitteln gegriffen, und ihm war klar geworden, daß er durch seine Nachforschungen nicht nur seine Karriere aufs Spiel setzte, sondern auch seine Prinzipien. Aber er versuchte, seine Lügen vor sich selbst zu rechtfertigen, indem er sich sagte, daß bei seiner Suche nach dem Mörder unbedeutendere Wahrheiten auf Kosten einer bedeutsamen geopfert werden mußten. Die Gerechtigkeit mußte Vorrang haben – nicht nur für die Mordopfer, sondern auch für jene Menschen, die Yukiko und Noriyoshi geliebt hatten: Wisterie, Midori und all die anderen. Dennoch verspürte Sano ein tiefes Unbehagen. Seine private Suche führte ihn in eine beängstigende, unbekannte Welt, fernab vom leuchtenden Pfad der Pflicht, des Gehorsams, des Respekts gegenüber den Eltern und der Rechtschaffenheit und Treue, die vom »Weg des Kriegers« bestimmt wurde.
Nachdem er verschiedene Ausreden verworfen hatte, beschloß Sano, Ogyū die Geschichte von der Pilgerreise zu erzählen; sie war glaubhaft und vor allem nicht völlig erlogen. Denn Sano wollte das Heiligtum von Mishima – an der ersten Kontrollstation nach Hakone gelegen – wirklich besuchen. Außerdem würde es zumindest den Anschein erwecken, daß Sano die Wahrheit gesagt hatte, falls Ogyū an den Kontrollstellen der Fernstraße Spione postiert hatte, die ihm ständig über den Reiseweg Sanos Bericht erstatteten. Zudem hatte ein Arzt die Pilgerreise nach Mishima tatsächlich empfohlen; deshalb würde Ogyū – ein glühender Verfechter des Pflichtbewußtseins – Sanos Bitte nicht abschlagen können.
Ogyū rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Eine Pilgerreise zum Wohle Eures Vaters? Was für ein bewundernswerter Ausdruck des Respekts gegenüber den Eltern. Selbstverständlich ist Euer Urlaub genehmigt, yoriki Sano.«
»Ich danke Euch, ehrenwerter Magistrat.«
»Wann wollt Ihr aufbrechen?«
»Morgen früh, falls es Euch genehm ist.« Sano verbeugte sich. Er war erstaunt, daß Ogyū so schnell zugestimmt hatte. Glaubte der Magistrat die Geschichte von der Pilgerfahrt wirklich? Oder wollte Ogyū nur die Gelegenheit beim Schopf packen, seinen yoriki eine Zeitlang loszuwerden? Sano fragte sich, ob Ogyū über Midori Bescheid wußte und ob ihm aufgefallen war, daß Sanos plötzlicher Wunsch nach der Pilgerfahrt zeitlich mit Midoris Verschwinden aus Edo zusammenfiel. Doch falls dem so war – weshalb schien es Ogyū dann nicht zu kümmern, ob Sano Midori im Kloster besuchte? Vielleicht gab es gar keine geheime, verbrecherische Absprache zwischen Ogyū und den Nius, wie Sano vermutet hatte.
Er schüttelte diese Gedanken ab und sagte sich, daß er froh sein konnte, daß ihm der Urlaub überhaupt bewilligt worden war. »Ich danke Euch von Herzen für Eure Freundlichkeit, ehrenwerter Magistrat.«
Ogyū nickte lächelnd. Dann, unvermittelt, sagte er: »Natürlich werdet Ihr Euren Schreiber mitnehmen.« Ogyūs Stimme ließ erkennen, daß es nicht nur ein Befehl war, sondern eine Bedingung, um die Reise antreten zu können.
Bestürzt blickte Sano seinen Vorgesetzten an. Tsunehiko! schoß es ihm durch den Kopf. Was für eine schreckliche Belastung! Der Schreiber war kein geübter Reiter, so daß die Reise noch länger dauern würde als geplant. Und woher sollte Sano das Geld nehmen, Tsunehiko fünf Tage lang zu verpflegen? Es gab genug andere Ausgaben: für Unterkunft, Speisen und Getränke, Stallgebühren und die Maut, die an jeder der zehn Kontrollstellen zwischen Edo und Hakone entrichtet werden mußte.
»Ich weiß Euren Rat … zu schätzen … ehrenwerter Magistrat«, erwiderte Sano stockend. »Aber … ich glaube, auf dieser Pilgerreise
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