Der Kirschbluetenmord
grotesken Maske; ihre Züge schrumpften zu einem schwarzen Totenschädel. Körperflüssigkeit brodelte und zischte, als die Hitze sie verdampfen ließ. Der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Asche wirbelte empor und schwebte in Richtung des Flusses.
Sano beobachtete das Geschehen mit jenen Gefühlen, die er bei manchen Totenfeiern empfunden hatte: Mitleid für einen Menschen, dessen Leben zu früh geendet hatte; instinktive Abscheu beim entsetzlichen Anblick eines verbrennenden Körpers; tiefe Erleichterung, als die Flammen ihr reinigendes Werk beendet hatten. Nur Trauer empfand er nicht, da er Niu Yukiko nicht gekannt hatte. Statt dessen regte sich in seinem Innern ein tiefes Pflichtgefühl dem Geist des toten Mädchens gegenüber. Weil mit dem Tod das Leben endet, enden auch Liebe und Haß, Glück und Trauer, Freude und Schmerz. Doch Sano war der Überzeugung, daß Wahrheit und Gerechtigkeit über den Tod hinausreichten.
Ich werde deinen Mörder finden, versprach er Yukiko stumm.
Während Sano wartete, daß die Flammen den Körper des Mädchens verzehrten, betrachtete er verstohlen die Gesichter der Trauernden. Vielleicht entdeckte er irgendwo Schuld, Triumph, hämische Freude oder irgendeinen anderen Gefühlsausdruck, der dieser Situation nicht angemessen war. Irgend etwas, das den Betreffenden als potentiellen Mörder kennzeichnete. Doch er wurde enttäuscht. Wie es den Gepflogenheiten bei Totenfeiern entsprach, zeigte niemand die leiseste Regung. Auf Fürstin Nius Gesicht lag der gewohnt ernste, würdevolle Ausdruck; sie trug ihn so selbstverständlich zur Schau, als wäre er Teil ihrer Trauerkleidung. Sano glaubte, auf Fürst Niu Masahitos Gesicht Beunruhigung erkennen zu können; doch es konnte sein, daß ihm seine Phantasie etwas vorgaukelte oder daß es an den Flammen des Scheiterhaufens lag, die zuckende Muster aus Licht auf das Gesicht des jungen Mannes warfen.
Mit einem plötzlichen lauten Krachen stürzte das Dach über dem Scheiterhaufen in einem Wirbel aus Rauch und Flammen ein. Die Trauernden wichen zurück. Sano nutzte die Gelegenheit, sich aus der Gruppe von Männern zu lösen, die ihn umstanden. Langsam ging er am äußeren Rand des Kreises entlang, den die Trauergäste bildeten, bis er dicht hinter der Familiengruppe stand. Sechs, sieben Reihen von Gefolgsleuten und Dienern standen zwischen Sano und den Frauen der Nius.
Wieder konnte er Midori nirgends entdecken. Doch neben ihm stand eine Bekannte.
Sie trug einen schlichten Kimono aus Baumwolle, der sie als Dienerin kenntlich machte. Das Gesicht mit der ziemlich flachen Nase und dem kleinen Mund war wenig einprägsam. Doch als Sano die roten, verweinten Augen der Frau sah, erkannte er sie als O-hisa wieder – jene Dienstmagd, die er bei seinem Besuch im Haus der Nius hatte weinen sehen.
»O-hisa«, flüsterte er und zupfte sie am Ärmel, um auf sich aufmerksam zu machen. »Wo ist Midori?«
Die Hausmagd schaute ihn an, doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Sie schien ihn nicht zu erkennen.
Ein paar Schritt voraus, in bedrohlicher Nähe, erblickte Sano den Rücken der Fürstin Niu. »Wir sind uns vor zwei Tagen im Haus Eurer Herrin begegnet«, fuhr er hastig fort. »Ich bin yoriki Sano – könnt Ihr Euch an mich erinnern? Ich muß mit Fräulein Midori sprechen. Es ist sehr wichtig. Könnt Ihr mir zeigen, wo sie ist?«
Jetzt zeigte sich Wiedererkennen auf O-hisas Gesicht. Doch ihre Augen wurden groß, ihre Lippen zitterten. Sie hatte Angst. »Nein … Es tut mir sehr leid, Herr, aber … Ich …«, stammelte sie; dann machte sie eine Bewegung, als wollte sie sich umwenden und die Treppe an der Uferböschung hinauf und zum Tor flüchten.
Sano trat ihr in den Weg. »Bitte«, sagte er.
Doch O-hisa drehte sich um, rannte los und drängte sich durch die Menge der Trauernden. Die Leute wichen zur Seite; erstauntes und verärgertes Gemurmel erhob sich.
Sano beobachtete bestürzt, welche Folgen O-hisas panische Flucht hatte: Frauen klopften sich den Staub, den O-hisas Schritte hinterlassen hatte, vom Saum ihrer Kleider; ein alter Mann, der zu Boden gestürzt war, rappelte sich schimpfend auf. Erschreckt fragte sich Sano, ob er sich schleunigst zurück auf seinen alten Platz inmitten der Männer begeben sollte, bevor Fürstin Niu oder Magistrat Ogyū den Tumult bemerkten.
Sano zögerte zu lange. Eine große, schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Er fuhr herum und sah sich dem riesigen Diener der Fürstin gegenüber. Eii
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