Der Kirschbluetenmord
den Gasthäusern, Trinkstuben und Teehäusern am Straßenrand herrschte reger Betrieb. Durch die Eingangstüren hinter den Vorhängen trieben Kochdünste bis auf die Straße. Tsunehiko begrüßte die Wohlgerüche mit einem Aufschrei des Entzückens.
»Bitte, können wir irgendwo etwas essen gehen, yoriki Sano -san?« bettelte er.
»Später.« Sano grinste. Es bestand nicht die Gefahr, daß Tsunehiko den Hungertod starb. Sano hatte den Schreiber fast ununterbrochen essen sehen, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten. Sie konnten an der nächsten Postenstation eine Mahlzeit einnehmen, während die Pferde sich erholten und gefüttert wurden. Sano wollte an diesem Tag die größtmögliche Strecke zurücklegen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Er ritt voran, als sie sich dem Kontrollposten näherten; das niedrige Lehmziegelgebäude stand ein gutes Stück von der Straße entfernt.
Vor dem Wachthaus hatte sich eine lange Warteschlange gebildet; langsam rückten die Reisenden bis zu dem Fenster vor, hinter dem die Beamten saßen und die Namen notierten, die Papiere durchsahen und den Leuten die Weiterreise erlaubten oder verwehrten. In einem Stall in der Nähe wurden Packpferde vermietet. Als Sano sich aus dem Sattel schwang und sich mit Tsunehiko an das Ende der Warteschlange stellte, hörte er trunkenes Gelächter, das hinter dem Stallgebäude erklang. Die ortsansässigen kago -Träger saßen in ihrem schäbigen Hüttenlager um ein Feuer und tranken Sake, während sie auf Kunden warteten.
Schon nach wenigen Augenblicken fragte Tsunehiko ungeduldig: »Warum dauert das so lange?«
Sano trat aus der Reihe der Wartenden und warf einen Blick nach vorn. Eine grauhaarige Frau und ihre beiden männlichen Begleiter standen vor dem Fenster. Der Beamte wühlte sich durch einen Stapel Papiere und hielt ab und zu inne, um der Frau eine Frage zu stellen.
»Ich verstehe nicht, weshalb die wegen einer alten Frau einen solchen Aufstand machen«, beklagte sich Tsunehiko, nachdem Sano ihm erzählt hatte, weshalb es so langsam voranging. »Man dürfte uns nicht warten lassen. Wir haben es eilig!«
Sano hätte dem Schreiber am liebsten gesagt, daß sie viel schneller vorangekommen wären, hätte er nicht so viele Pausen eingelegt. Doch Tsunehikos offensichtliche Freude an der Reise und sein Stolz, den Vorgesetzten begleiten zu dürfen, hielten Sano davon ab.
»Die Regierung darf nicht zulassen, daß die Daimyō ihre Frauen aus Edo herausschmuggeln«, sagte Sano, die Gelegenheit nutzend, seinen Schreiber wieder etwas Neues zu lehren. »Wären die Geiseln in der Provinz – und damit in Sicherheit –, könnten die Daimyō ihrem Zorn über die Steuern und die Einschränkungen ihrer Freiheiten ungehindert Luft machen, indem sie einen Aufstand gegen den Shōgun entfachen.«
Schließlich folgte die Frau einer weiblichen Beamtin ins Wachthaus, wo sie auf Narben und andere äußere Merkmale untersucht wurde, die in ihrem Reisepaß aufgeführt waren. Sano fragte sich, wie die Nius es geschafft hatten, so schnell einen Paß für Midori zu besorgen. Derart begehrte Dokumente mußten von einer Vielzahl von Beamten unterschrieben werden; manchmal dauerte es Monate, bis ein Paß ausgestellt war. Die Nius mußten ein Vermögen an Bestechungsgeldern bezahlt haben. Obwohl sie eine solche Ausgabe leicht verschmerzen konnten – es war ein weiterer Hinweis darauf, daß die Nius einen wichtigen Grund gehabt haben mußten, Midori aus Edo fortschaffen zu lassen.
Als sie das Ende der Warteschlange erreichten, zeigte Sano ihre Ausweise vor und bezahlte die Maut. Er und Tsunehiko halfen den Posten, die Satteltaschen der Pferde zu leeren und nach geschmuggeltem Gold, ausländischen Waren und Feuerwaffen zu durchsuchen. Als Regierungsbeamte gelangten sie indes ohne Schwierigkeiten durch die Kontrolle. Doch als sie sich für den Weiterritt fertigmachten, durchlief Sano plötzlich ein unangenehmes, kribbelndes Gefühl.
Irgend jemand beobachtete ihn. Er konnte die Blicke spüren, die auf ihn gerichtet waren und sich mit boshafter, durchdringender Kraft in seinen Rücken bohrten.
Sano tat so, als würde er noch einmal überprüfen, ob die Satteltaschen festgezurrt waren. Dann drehte er sich abrupt um. Einige andere Reisende, darunter mehrere berittene Samurai, einige Bauern und eine Gruppe von Pilgern hatten sich inzwischen zu den Wartenden gesellt. Doch es war niemand darunter, den Sano kannte, und die neuen Gesichter, die seine Blicke erwiderten, zeigten
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