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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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sich, bevor er die Flöte aus seiner Tasche holte. »Danke, Beta. Dein Spiel hat mich an die Süßigkeiten erinnert, die unsere Mutter an meinem Geburtstag für mich gemacht hat, als ich in deinem Alter war.« Er reichte seinem Bruder die Flöte.
    »Interessant«, sagte dieser, als er sie entgegennahm.
    Kalu wusste nicht, ob er damit sein Spiel, die Flöte oder die Bemerkung seines Bruders meinte.
    »Sie ist aus Rosenholz«, fuhr der Musiker fort, »und liegt schwerer in der Hand als eine Bambusflöte.«
    Kalu verspürte, wie sich ein heißer Wirbelsturm aus seiner Magengrube erhob, der ganz im Widerspruch zur Schwere seiner Gliedmaßen stand. Seine Flöte war besser als jede Bambusflöte.
    »Aber«, fuhr der Mann fort, »es wird gehen. Sehr gut sogar. Also –«, er durchbohrte Kalu mit einem scharfen Blick, »ich könnte dich unterrichten. Aber nur, wenn du wirklich bereit bist, zu lernen.«
    Kalu konnte seinen Ärger nicht unterdrücken. »Vielleicht sollte ich es lieber woanders versuchen.«
    »Kalu«, sagte der Vaid, »mein Bruder klingt vielleicht mitunter etwas schroff und sagt Dinge, mit denen du nicht einverstanden bist, aber er ist der beste Lehrer für dich. Es gibt nicht viele, die einen Jungen von der Straße aufnehmen würden, ganz gleich, wie gut er spielt. Entweder wird er etwas aus dir ma
chen, oder du wirst an ihm zerbrechen. Bist du bereit, dieses Risiko auf dich zu nehmen?«
    »Wenn du willst, dass ich dein Lehrer werde, dein Guru, dann musst du mich ertragen, ebenso wie ich dich. Aber«, der Bruder des Vaid hob die Stimme, als er fortfuhr, »du wirst mir in allem gehorchen. Nicht nur, was die Musik angeht. Ist das klar? Ich kann dich von einem verwahrlosten Straßenjungen in einen Musiker verwandeln.«
    »Wir sind hier nicht bei Pygmalion , Bruder.«
    »Nein, natürlich nicht. Aber du hast ihn hergebracht. Du kennst die Risiken. Entweder ihr akzeptiert meine Bedingungen, oder wir lassen das Ganze.«
    Kalu dachte an sein Leben in Hastinapore. Er sah hinunter auf das narbige Netz auf seinem Knöchel. Mehr war nicht geblieben von der Wunde, die ihn fast für immer zum Bettler gemacht hätte. Dann sah er den Vaid, der ihn geheilt und ihm gezeigt hatte, wie er auf der Flöte spielen konnte. »Ist das die Bezahlung, die Sie von mir verlangen?«, fragte er ihn. Als dieser nickte, holte Kalu tief Luft und wandte sich an den Meister.
    »Und Sie werden mir beibringen, Flöte zu spielen?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Richtig gut?«
    »Ja doch!«, blaffte der Musiker. Seine Stimme war ärgerlicher als seine Miene.
    »Dann werde ich Ihnen gehorchen.« Kalu richtete sich auf und streckte die Hand aus.
    Der Musiker ergriff sie. Kalus Handschlag war fest und kräftig, obwohl der Junge fast nur aus Haut und Knochen bestand.
    »Von nun an kannst du mich Guruji nennen. Ich nehme dich als meinen Shishya, meinen Schüler, an. Du besitzt eine Gabe, mit der nicht viele richtig umgehen können. Glücklicherweise gehöre ich zu den wenigen, die es können. Ich werde dich unterrichten, aber du wirst tun, was immer ich von dir verlange. Und du wirst hart arbeiten. Mitunter wird dich der Mut verlas
sen, und du wirst versucht sein, alles hinzuwerfen. Aber wenn du Ausdauer hast, werden wir gute Fortschritte machen. Du wirst lernen. Du wirst hier bei Ashwin und mir wohnen, und wir werden den ganzen Tag bis in die Nacht arbeiten.«
    Reglos und konzentriert lauschte Kalu den Worten des Guruji.
    »Wir haben drei Schlafzimmer. Ashwin lebt in einem Anbau im Garten. Wir haben also hinreichend Platz für dich. Frühstück gibt es um sechs. Ich halte es mit dem alten System, das heißt, Kleidung und Essen bekommst du von mir. Dafür wirst du Ashwin und mir helfen.«
    Der Guruji hob die Hände, als Kalu ansetzte, ihm zu widersprechen. Er hatte ja immer für sich selbst gesorgt. »Zusätzlich bekommst du jeden Monat ein Taschengeld, das du mir irgendwann zurückzahlen wirst. Du wirst nur in der Öffentlichkeit spielen, wenn ich es sage, und solange du mein Schüler bist, gehen deine gesamten Einnahmen an mich. Und …«, der Guruji legte die Finger aneinander, so dass ihre Spitzen sich berührten, »wir vereinbaren eine Probezeit von einem Jahr und einem Monat. Wenn am Ende dieser Zeit einer von uns Zweifel hat, wirst du uns verlassen. Hast du verstanden?«
    Kalu blickte auf die schwieligen Hände des Meisters und sah ihm auf eine Art ins Gesicht, wie es Kalu-von-der-Straße nie getan hätte. »Ich habe verstanden. Wenn Sie mich gut

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