Der Klang der Sehnsucht - Roman
mit Ganga Bas Nummer, den er eigens vom
Telefon an sich genommen hatte, in seine Tasche. Wenn jemand ihn ertappte, konnte er wahrheitsgemäß antworten, er habe sich nur diesen Zettel holen wollen. Außerdem hatte ihm ja niemand gesagt, es sei ihm nicht gestattet, dieses oder irgendein anderes Zimmer zu betreten. Dennoch ging er auf Zehenspitzen, nur für den Fall der Fälle.
Als Erstes fiel ihm das Bett auf. Es war modern, mit einem Unterbau aus Holz und einer Matratze, anders als die geflochtenen Liegen, die die meisten Bewohner von Hastinapore besaßen. Ganga Ba hatte bestimmt auch so eins, nur viel, viel breiter.
Die Wände waren kahl, aber blau gestrichen. Der kleine Tisch neben dem Bett quoll über von allen möglichen Büchern und Zeitschriften, die in unordentlichen Stößen an der Wand Halt suchten. Später fand Kalu heraus, dass der Guruji Ashwin nicht erlaubte, die alten Ausgaben der Times of India und Illustrated Weekly zu entsorgen. »Man weiß nie, wann man sie noch braucht, und außerdem stören sie hier doch niemanden«, pflegte er zu sagen.
Ein Altpapierhändler hätte sicher einiges für all diese Zeitungen und Zeitschriften bezahlt. Kalu hatte noch nie jemanden gekannt, der so gerne las und Bücher so schätzte wie der Guruji. Vielleicht war er deshalb so klug geworden. Große Worte in verschiedenen Sprachen flossen ihm über die Lippen, als wäre es das Normalste von der Welt. Bei Vaid Dada spiegelte alles, was er tat, seine Persönlichkeit wider. Die Stimmung des Guruji hingegen war stets am Klang seiner Stimme und der Gewalt der Worte abzulesen.
Kalu öffnete weder den Schrank noch eine einzige Schublade. Nur einige Bücher schlug er auf, stellte sie anschließend aber sorgfältig in der gleichen Reihenfolge zurück. In fast allen war die Schrift anders und auch das Papier. Kalu zählte fünf verschiedene Schriften, und das waren nur die Bücher im Schlafzimmer des Guruji.
Im Bücherzimmer, in das Kalu nun zurückkehrte, gab es sogar noch mehr davon. Obwohl er in diesem Raum die meiste Zeit verbracht hatte, hatte er am Tag zuvor keine Gelegenheit gefunden, sich ihn näher anzusehen.
Dort stand auch ein kleiner Fernsehapparat, auf dem der Guruji sich die Nachrichten von BBC World ansah, wie Kalu später erfuhr. Meist jedoch hatte Ashwin den indischen Sender Doordarshan eingestellt, denn er interessierte sich sehr viel mehr fürs Fernsehen als fürs Lesen. Schließlich gab es noch das Ess- und das Musikzimmer. Letzteres hielt alles für die Übungsstunden bereit: Abgesehen vom Flötenkasten des Guruji gab es dort eine Vina, eine Tanpura, verschiedene Trommeln und Matten. Auf der anderen Seite des Zimmers befanden sich eine Stereoanlage und ein Stapel Schallplatten. Kalu schaute sich jede der staubbedeckten Platten einzeln an. Einige Hüllen trugen ein Bild des Guruji. Diese säuberte Kalu und legte sie ganz oben auf den Stapel.
Das Zimmer mit dem Diwan war geräumiger als das Bücherzimmer, wurde aber weniger benutzt.
Kalu zögerte, Vaid Dadas Zimmer zu betreten. Es roch nach den Räucherstäbchen, die der Vaid jeden Morgen entzündete – eine Mischung aus Pinie und Sandelholz. Kalu ging weiter, ohne einzutreten.
Eigentlich war das Haus viel zu groß für Ashwin und den Guru allein, selbst wenn der Vaid bisweilen bei ihnen wohnte. Kalu rechnete sich aus, dass mindestens zwanzig Leute in dem Haus Platz finden würden. Im Geist verteilte er die Zimmer an ganze Familien, Menschen, von denen er wusste, dass sie ein Dach über dem Kopf und vier feste Wände zu schätzen wüssten.
*
Am dritten Tag ging Kalu in den Garten hinaus und schlich sich, als Ashwin fort war, in den Anbau hinter der Küche. Die Tür war nicht verschlossen. Es war dunkel in dem Raum, und
Kalu wartete blinzelnd, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Ashwins Reich wirkte sehr viel aufgeräumter als das des Guruji. Auf dem Tisch lag eine ganze Batterie von Plastikkämmen, jeder in einer anderen Farbe. Rot, Blau, Grün, Orange, ein helleres Grün und Braun, aber nur der rote hatte noch alle Zinken. Die Wand neben der Tür war mit Postern von Filmstars aus Zeitschriften tapeziert. Bei einigen trennte ein weißer Knick in der Mitte das Gesicht vom Körper. An der Wand gegenüber vom Bett standen zwei große Schränke. Was sie enthielten, sollte Kalu erst später erfahren. In ihnen nämlich hortete Ashwin Gegenstände, die dem Guruji, seinen Freunden oder früheren Schülern gehört hatten, Schnickschnack
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