Der Klang der Sehnsucht - Roman
gestiegen waren. Seine Stimme klang leise.
»Siehst du, Bruder. Ich wusste es. Aus einem Jungen, der sofort beleidigt ist, weil er unerwünscht ist, wird nie ein richtiger Musiker. Er hat es einfach nicht in sich.«
»Sie wissen überhaupt nicht, was ich in mir habe oder nicht«,
wandte Kalu sich jetzt an den Guruji. »Weil … weil Sie ein Esel sind. Sie wissen nichts von mir. Ich könnte alles Mögliche sein, und Sie würden mich trotzdem nicht wollen … ich will spielen – aber mit einem guten Lehrer, der mich will.« Entsetzt brach Kalu ab. Als er sich umdrehen wollte, um zu gehen, landete er auf seinem verletzten Knöchel. Der Raum schien plötzlich ins Wanken zu geraten. Der Vaid konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er zu Boden schlug.
»Er hat ganz recht, weißt du«, sagte er und drückte den Jungen an sich. Kalu wusste, dass er seine Chance verspielt hatte, aber er fühlte sich so ausgelaugt und erschöpft, dass ihm alles egal war.
»Und was bringt dich auf die Idee, dass er etwas Besonderes in sich hat?« Der Guruji sprach jetzt in ruhigem Ton. Langsam und gesetzt wie der Vaid.
Es ärgerte Kalu, dass ein solcher Mann sprechen konnte wie sein Dada. Er barg den Kopf in den Ärmeln des Vaid.
»Kann er spielen?«, fuhr der Musiker fort. »Wirklich spielen? Dazu braucht man mehr als nur Talent. Man braucht Ausdauer und Kraft.«
»Hör ihn dir selbst an, Bhai«, unterbrach ihn der Vaid. »Unvoreingenommen. Komm Kalu, spiel meinem Bruder etwas vor.«
Kalu schüttelte den Kopf. Aber der Vaid zog ihn zu sich und gab ihm zu verstehen, dass es sich nicht um eine Bitte handelte. Kalu rieb sich den schmerzenden Knöchel mit den Zehen seines anderen Fußes und rang vor Aufregung zitternd nach Luft.
»Die Flöte?«
Der Vaid überlegte. Er hatte die Flöte in seinen Arztkoffer gepackt, damit sie auf der Reise nicht beschädigt wurde. »Es war richtig von dir, bei Ganga Ba auf deiner alten Flöte zu spielen, Beta. Sie ist dir vertraut.«
»Aber es ist ja keine richtige Flöte.«
»Das Instrument interessiert mich nicht, Junge.« Der Musiker
beugte sich vor. »Ich interessiere mich für dich. Also komm schon, spiel mir was vor. Irgendwas. Spiel einfach.«
Kalu zögerte, dann zog er die Plastikflöte aus seiner Tasche. Er holte rasch Luft und legte die Flöte an die Lippen.
»Halt!«
Kalu hielt inne und sah dem Guruji zum ersten Mal seit seinem Ausbruch ins Gesicht. Er versuchte, seine Abneigung zu überwinden. Der Musiker setzte eine strenge Miene auf. »Nimm dir wenigstens die Zeit zu atmen. Ich will kein Schulkonzert. Setz dich auf den Boden. Mach die Augen zu, und atme um Himmels willen, atme, bevor du spielst.«
Kalu ließ sich zu Boden gleiten. Dort fühlte er sich schon wohler. Er schloss die Augen und stellte sich vor, es sei früher Morgen in seinem Tempel. Die Sonne war noch bleich und die Luft ein bisschen trocken, als die Erde aus ihrem tiefen Schlaf erwachte. Der Junge hob die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Erst leise, dann lauter breitete die Melodie sich wie Sonnenschein im ganzen Raum aus.
Kalu konnte sich nie mehr erinnern, was und wie lange er gespielt hatte. Er wusste nur noch, dass er schließlich in dem Zimmer mit vielen Büchern wieder zu sich gekommen war und es leicht nach Zimt geduftet hatte. Als er die Lider aufschlug, sah er, dass dem Vaid Tränen über die Wangen liefen. Sein Bruder weinte nicht, aber seine Augen glänzten, und seine Hände umklammerten den Diwan, als herrsche ein heftiger Sturm und er müsse sich festhalten. Erst langsam kehrte das Blut in seine weißen Knöchel zurück.
»Ja, ich verstehe«, wandte er sich mit brüchiger, erstmals ein wenig schwacher Stimme an den Vaid. »Wenn er das schon auf einer Plastikflöte kann … Ihm fehlt natürlich die Technik, und er muss noch viel üben. Gut, dass du nicht versucht hast, ihn selbst zu unterrichten, Bhai. Der Bhairav ist ein mächtiger Raga, dem gerade seine Einfachheit große Kraft verleiht. Doch wer die Gabe besitzt, muss vorsichtig mit ihr umgehen, denn
ein Raga hat nicht nur die Macht zu heilen, er kann auch zerstören.«
Kalu klammerte sich an seine Plastikflöte. Plötzlich wurden die Anstrengung, die ihn sein Spiel gekostet hatte, und die Spannung im Raum zu viel für ihn. Der Vaid schob seine warmen Hände unter Kalus Schultern, hob ihn vom Boden hoch und setzte ihn neben sich.
»Du hast seine Flöte? Die, von der ihr gesprochen habt?«, fragte der Guruji.
Der Vaid drückte Kalu an
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