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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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absichtlich hier in die Einöde am Ende der Welt, wo keiner dich erreichen kann. Und dann fragst du mich jedes Mal, wenn ich mich zu dir heraufgequält habe, ob ich eine angenehme Reise hatte. Macht es dir eigentlich Spaß, darüber zu sprechen, wie beschwerlich und anstrengend es für mich ist, hier heraufzukommen?«
    »Nun, du bist schließlich ein Vaid. Heil dich selbst.« Die beiden Männer saßen einander leicht zugewandt auf dem Diwan. Der Vaid lehnte sich zurück, während sein Bruder aufrecht saß und den rechten Fuß unter das linke Knie gelegt hatte. Ihr Tonfall, ihre Sprache und ihre Unbefangenheit im Umgang miteinander wiesen die beiden Männer als Brüder aus, obwohl ihre Gesichtszüge sich voneinander unterschieden wie Sonne und Mond. Die Augen des Vaid waren klar und gelassen, doch sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, die an die Wege und Straßen erinnerten, auf denen er sein Leben lang gewandert
war. Die Haut seines Bruders dagegen war heller und seine Mimik bewegter. Seine Augen blickten scharf wie die eines Falken.
    Während die beiden Männer sich unterhielten, schaute Kalu sich um und verhielt sich dabei so ruhig wie möglich, damit sie nichts bemerkten. Er hätte sehr viel lieber auf dem Boden gesessen als auf diesem komischen Möbel. Die großen Fenster, die etwa dreißig Zentimeter über dem Boden begannen und sich zur Veranda und zum Garten öffneten, wirkten eher wie Türen. Die Sessel waren an den Rändern zerschlissen und die Polster verblichen. Das Haus schien genauso wild zu wuchern wie die Pflanzen im Garten, jeder Gegenstand drängte den nächsten beiseite, um mehr Raum zu haben. An allen vier Wänden standen Bücherregale. Kalu konnte sich nicht vorstellen, wie jemand die Zeit oder die Geduld aufbringen konnte, sie zu lesen.
    Ganga Ba las immer nur Zeitschriften, beklagte sich aber häufig, dass sie nie Zeit hatte, etwas Längeres zu lesen, andererseits verachtete sie alles Neue. Kalu konnte sie förmlich hören: ›Diese neumodischen Bücher. Alles Quatsch. Nur Hera-feri und Gott weiß was.‹ Erst als der Vaid seinen Namen sagte, fand er wieder in die Gegenwart zurück.
    »Wenn du Kalu als Schüler annimmst, musst du die Straße ausbessern. Das ist dir ja wohl klar. Wenn der Junge dauernd so durchgeschüttelt wird, bleibt nichts von ihm übrig. Ich weiß nicht, wie Ashwin das aushält. Gar nicht zu reden von mir. Ich werde natürlich öfter kommen, um den Lehrer und seinen Schüler zu besuchen.«
    Der Guruji runzelte die Stirn, seine Hände kamen zur Ruhe. »Ich habe es dir schon am Telefon gesagt. Ich habe kein Interesse an Schülern.«
    »Ich weiß, was dich interessiert und was nicht, Bhai. Aber wie ich dir bereits am Telefon erklärt habe, hast du gar keine Wahl. Kalu schuldet mir etwas, und ich möchte, dass er auf diese
Weise bezahlt. Hätte ich ihn den ganzen Weg hier heraufgeschleppt, wenn ich nicht sicher wäre, ihr beide würdet einander guttun?«
    »Was mir oder anderen guttut, spielt keine Rolle für mich. Das weißt du ganz genau. Jemanden zu unterrichten bedeutet mehr, als du dir vorstellen kannst. Es ist eine Reise, die Lehrer und Schüler mit Haut und Haaren auffrisst. Und du bringst mir einen Straßenjungen. Ich nehme nicht mal Leute, die etwas können. Außerdem müsste ich ihm erst Lesen und richtig Reden beibringen, bevor ich überhaupt mit der Musik anfangen kann. Bring ihn zu einem Lehrer in irgendeiner Wohlfahrtseinrichtung.«
    Obwohl der Guruji seine Stimme nicht erhob, traf die Wucht seiner Worte den Jungen schwer. Kalu stand auf.
    »Da siehst du's«, fuhr der Musiker fort. »Der Junge will offenbar ebenso gern gehen, wie ich ihn von hinten sehen möchte. Wenigstens scheint er nicht taub zu sein, nur stumm.«
    »Das reicht jetzt.« Der Vaid hob die Hand. »Hast du diese kleine Rede vorbereitet, seit du weißt, dass ich Kalu mitbringen würde? Ist Ashwin deshalb nicht hier, um mich zu begrüßen?«
    Zu Kalus Überraschung veränderte sich die Miene des Musikers abrupt, bis er schließlich aussah wie ein schmollendes Kind. »Ashwin kommt sicher gleich«, sagte er eingeschnappt. »Er musste ins Dorf, um einzukaufen. Bestimmt wurde er aufgehalten. Sonst hätte er dich natürlich draußen erwartet. Das hat nichts damit zu tun, ob der Junge bleiben soll oder nicht.«
    »Hör dir wenigstens einmal an, wie er spielt.«
    »Ich bleibe nirgends, wo man mich nicht will«, sagte Kalu an den Vaid gewandt. Es waren seine ersten Worte, seit sie aus dem Jeep

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