Der Klang der Sehnsucht - Roman
Freund verlieren, sobald sich dieser in sein neues Leben eingefunden hatte. Doch das Gegenteil war eingetroffen.
Zum Beispiel hatte Bal früher die Festlichkeiten zu Navratri nur von außen betrachtet, doch nun wurde er mit einbezogen.
Inzwischen waren Kalus Besuche in Hastinapore um diese Jahreszeit schon Tradition, und die Stadt brüstete sich damit, alljährlich zu Navratri die besten Musiker zu präsentieren. Ursprünglich war das ein Gerücht gewesen, das Ganga Ba gestreut hatte, als sie Kalu das erste Mal einlud, um allen zu zeigen, was er gelernt hatte. Nach den ersten drei Jahren, in denen er Ganga Ba besucht und ihr gezeigt hatte, dass er »wohlauf« war, kam er fast jedes Jahr zu Navratri nach Hastinapore. Er eröffnete für gewöhnlich den Abend bei der größeren Feierlichkeit für die oberen Schichten von Hastinapore und Umgebung. Kurz vor
Mitternacht jedoch verließ er diese Veranstaltung und schloss sich dem Fest auf den Feldern an.
Dort erweckte Kalu die Nacht zum Leben, es war, als würde Krishna auf seiner Flöte spielen. Es wurde stets ein wenig heller, selbst die Luft schien aufgeladen, wenn Kalu spielte. Und direkt neben ihm auf der Bühne saß Bal und läutete umgeben von Musik und Tanz die Glocken oder spielte die Zimbeln. In den alten Zeiten, als er hoch oben am Berg zu sitzen pflegte, hatte er nie etwas von der Hitze gespürt, die die Männer und Frauen abstrahlen, wenn sie im Kreis um das Abbild der Göttin Amba tanzten. Nie hatte er die Dynamik von Spannung und Auflösung so hautnah miterlebt, während der Tanz zunehmend schneller und wilder wurde und die Tänzer in Gesang verfielen: »Jaya Ambé, jaya Bhavani, jaya Ambé.«
Kalu gab ihm das Gefühl, ein Teil der Musik zu sein. Ein Teil seines Lebens.
*
»Martin kommt in den nächsten Tagen«, kündigte der Guruji beim Frühstück an. Er sprach langsam, seine Stimme war rau. Kalu und Ashwin wussten, was dies zu bedeuten hatte: Der Guruji hatte zu lange gespielt und nicht genug geschlafen. Aber sie wussten auch, dass es ihnen nicht zustand, Fragen zu stellen.
»Martin Baba. Bin ich froh. Endlich mal ein Mann, der zu essen versteht«, antwortete Ashwin. Den Ton ließ er unbeachtet. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für eine Inkarnation von Bhima halten. Hat er noch vier Brüder wie die Pandavas? Wenn ja, könnte er sie bestimmt in null Komma nichts auf seinen Schultern vor jeder Gefahr retten. Definitiv kann er eine ganze Wagenladung Süßigkeiten verzehren – wie Bhima, als er Vakasura, den Dämon, getötet hat.«
»Also töten kann ich mir nicht vorstellen«, versetzte Kalu und unterdrückte sein Lachen, als der Guruji missbilligend die Au
genbrauen hob. »Er hätte den Dämon wahrscheinlich eher mit seinem Geigenspiel gebannt, statt ihn zu erwürgen.« Kalu schaufelte sich etwas gewürzten Reis in den Mund. Kein Wunder, dass Martin Ashwins Gerichte mochte – der Mann war ein Genie. Er verstand es, selbst aus einfachem Reis eine besondere Köstlichkeit zu machen.
»Aber Martin besteht darauf, mich Ash zu nennen – als wäre ich so schwarz wie du, Kalu. Es wird wahrscheinlich Zeit, dass ich ihn Bhima nenne. Auf jeden Fall passt der Name zu ihm. Stell dir vor – Ash nennt er mich! Das heißt doch Asche, oder? Als hätte ich diese Fair and Lovely -Creme nötig, auf die die Frauen im Dorf so scharf sind, um weißer zu werden.«
»Ashwin, ich schlage vor, dass du, statt Schmähungen über Martin zu ergießen, sein Zimmer fertig machst. Er wird ein paar Wochen bleiben. In der Zeit kannst du ihm Peda und alle möglichen Süßigkeiten machen, bis er platzt.« Damit erhob sich der Guruji. »In fünf Minuten bist du im Übungsraum, Kalu. Du arbeitest weiter an deinem Raga Khamaj. Später kannst du ihn dann mit Martin proben.«
»Bestimmt stehen uns ein paar lange Nächte mit Bhima bevor«, stichelte Ashwin.
»Bhima, nicht zu fassen«, murmelte der Guruji.
Die beiden am Tisch vermieden es sorgfältig, einander in die Augen zu sehen, denn schon ein flüchtiger Blick hätte einen Lachanfall ausgelöst. Und die Konsequenzen wären, falls der Guruji sie hörte, gar nicht zum Lachen, vor allem, wenn er sich in dieser gereizten Stimmung befand.
Es hupte zweimal, und Kalu und Ashwin rannten aus dem Haus, um Martin willkommen zu heißen. Ein alter, rostiger, von der Reise völlig eingestaubter Jeep fuhr durchs Tor. Seit Martins letztem Besuch waren mindestens acht Monate vergangen, die ihnen allerdings nicht lang geworden
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