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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Bansubhai. Sind Sie seine Tochter?«
    »Ja.« Sie setzte sich auf die Kante eines kleinen Aluminiumhockers. Sie sprach leise, und ihre Stimme erinnerte Kalu an den vollen Duft der weißen Mograblüten, die man im Tempel darbringt.
    Sie holte tief Luft. »Mein Vater ist tot. Er ist gestern Nacht gestorben.« Ihre Stimme klang ruhig und gefasst, obwohl sie die Hände zu Fäusten ballte, dass die Knöchel weiß wurden. Der Vaid und Kalu erhoben sich. »Nein, bitte, behalten Sie Platz. Er hat mir von Ihnen erzählt. Ihre Flöten sind fertig. Bitte. Es hätte ihn sehr bekümmert, wenn Sie sie nicht bekämen. Bitte bleiben Sie sitzen.« Sie ging ins Nebenzimmer und kam mit zwei großen Holzkästen wieder. Sie schienen zu schwer für eine so kleine Person, aber ehe Kalu ihr noch zur Hilfe eilen konnte, hatte sie sie bereits behutsam auf dem Boden abgestellt.
    Sie klopfte neben sich auf den Teppich. Auf ein Nicken von Vaid Dada gesellte sich Kalu zu ihr und kniete neben den Kästen nieder.
    Sie entriegelte den ersten und klappte den Deckel auf. Vor ihm lag eine Reihe Flöten von unterschiedlicher Länge. Alle waren aus Bambus und oben und unten mit einer starken Plastikklammer versehen, um zu verhindern, dass sie sprangen.
    Das Mädchen blickte Kalu an und nahm dann völlig unerwartet seine Hand, befühlte die Muskeln, musterte die Schwielen und prüfte die Härte seiner Fingerspitzen. Sie wählte eine Flöte aus und strich zärtlich darüber, bevor sie sie an Kalu weiterreichte. »Spiel Sa .«
    Der Ton klang süß und weich, aber dennoch kraftvoll. Die Flöte lag in Kalus Händen, als wäre sie ein Teil von ihm. Sie lächelte. Ihre Augen leuchteten kurz auf, und Kalu erkannte, wie schön dieses Mädchen sein musste, wenn es lachte.
    »Mein Vater wusste es immer. Er hatte eine Ader dafür.«
    Kalu fiel auf, dass keine trauernden Familienmitglieder anwesend waren, um ihr beizustehen. Ihm drängte sich die Frage auf, ob sie ganz allein war.
    »Und du?« Kalu räusperte sich. »Was wirst du jetzt tun?«
    Sie richtete sich auf, wurde wieder zurückhaltend. »Ich werde tun, was wir alle tun.«
    Er hätte sie gern gefragt, wie sie das meinte, aber er wollte nicht zudringlich erscheinen.
    Sie legte Kalus neue Flöten in einen zweiten, leeren Kasten. »So, jetzt gehören sie dir. Ich glaube, du wirst dich ihrer würdig erweisen.«
    »Werden wir dich wiedersehen? Kommst du zurecht? Können wir etwas für dich tun?«, fragte er, ohne zu wissen, was das sein könnte.
    Das Mädchen blickte ihn ruhig an. »Mir geht es gut. Aber wenn du später einmal in Bombay spielst, komme ich vielleicht.« Ihre Stimme brach, aber ihr Tonfall veränderte sich so minimal,
dass die meisten Menschen es gar nicht gemerkt hätten. »Denk nur hin und wieder an meinen Vater, wenn du auf seinen Flöten spielst. Und behandle sie gut.«
    »Aber –« Kalu umklammerte den Kasten. Er wusste, dass er schrecklich lange nicht nach Bombay zurückkommen würde. Es fiel ihm unsagbar schwer, Abschied von diesem Mädchen zu nehmen.
    »Er wird hier spielen, Beti, ganz bestimmt«, unterbrach ihn Vaid Dada. »Wir haben dich jetzt genug aufgehalten. Danke. Und danke auch deinem Vater. Wir werden ihn in unsere Gebete einschließen.«
    *
    Kalu betrachtete die Flöten, die zwischen ihm und dem Guruji ausgebreitet lagen. Nicht zwei von ihnen hatten die gleiche Farbe. Alle waren oben und unten mit einem bestimmten Band umwickelt, das den Bambus zusammenhielt und dem Spieler erlaubte, sofort die richtige Tonart zu wählen. Doch sooft Kalu eine von ihnen berührte, sah er das Gesicht des Mädchens vor sich.
    »Und wie findest du sie?«
    »Schwer.« Kalu war ärgerlich. Was ein Fest hätte sein sollen, empfand er nun als zusätzliche Belastung.
    »Das kommt, weil du sie dir noch nicht wirklich angeeignet hast.«
    »Was soll ich machen?«, fragte Kalu zögernd, denn er wusste, die Antwort würde ihm nicht gefallen. Die Instrumente gehörten ihm, und er musste ihnen gerecht werden. Nur, dass er sich noch nicht stark genug fühlte. Er wollte nicht das Lied eines Toten im Kopf haben. Zugleich weckte dieser Gedanke auch Schuldgefühle in ihm.
    Der Guruji griff nach einer der neuen Flöten, spielte einige Töne und legte sie anschließend in seinen Schoß. Kalu setzte sich auf seine Hände, so stark war sein Bedürfnis, die Flöte wieder
an sich zu nehmen. Es überraschte ihn, wie sehr er sich bereits als ihr Besitzer fühlte.
    »Du wirst diese Flöten ständig bei dir tragen. Und auf sie

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