Der Klang der Sehnsucht - Roman
waren. Man schrieb sich und telefonierte, denn Martin war inzwischen ein fester Bestandteil ihrer Großfamilie geworden.
»Mann, Kalu, bist du gewachsen!«
Jetzt erst bemerkte Kalu, dass er auf Augenhöhe mit Martin sprach. »Das macht Ashwins nahrhafte Kost. Er hat auch schon für dich gekocht. Wenn du nicht aufpasst, bekommst du hier einen Bauch.«
»Einen noch dickeren Bauch, meinst du wohl.« Martin klopfte sich auf den Bauch. Er war ziemlich prall, aber Kalu wusste, dass es mehr Muskeln waren als Fett. »Ich habe extra nichts gegessen, damit alles reinpasst. Führ mich zu Tisch, Ash.«
»Kein Problem, Bhima. Ich habe für dich gekocht.« Ashwin grinste vergnügt, als Martin eine Braue hochzog und Kalu fragend ansah.
»Ich erkläre es dir später, Bhima, mein Freund. Vielleicht bei einem Imbiss. Hauptsache, der Guruji bekommt nichts mit. Außerdem gibt es Neuigkeiten. Wir machen einen Ausflug.«
»Nicht schon wieder Kricket«, stöhnte Martin.
»Nein. Diesmal ist es eine Hochzeit«, erwiderte Kalu, »und du wirst der Ehrengast sein. Ich habe versprochen, dass du mitkommst.« Kalu nahm die Taschen, und Ashwin ging voran, während Martin seinen ramponierten, schwarzen Geigenkasten an sich drückte. Sie wussten, dass es keinen Zweck hatte, ihm anzubieten, seine Geige zu tragen. Wie Kalu trug Martin stets die Verantwortung für sein Instrument.
Gemeinsam betraten sie den Flur, bevor sie sich trennten. Kalu ging in sein Zimmer, Ashwin in die Küche und Martin ins Bücherzimmer, um dem Guruji seinen Respekt zu erweisen.
*
Kalu saß im Schneidersitz unter dem Gulmohar-Baum, Martin lag neben ihm ausgestreckt im Gras. Der Gulmohar war sein Lieblingsbaum. Schon seit er als Kind seine Wurzeln ausgegraben hatte, um sie zu vermessen. Der Baum war sogar noch mehr gewachsen als er.
Es gefiel ihm, wie der Wechsel der Jahreszeiten sich an ihm
zeigte. Bald würden seine Knospen zu flammenden Blüten aufbrechen.
»Und wie findest du es, dass Malti jetzt heiratet?« Martin spielte mit einem Grashalm. »Sie ist noch ziemlich jung, oder?«
»Einige würden sagen, sie ist schon ziemlich alt. Viele Mädchen aus ihrem Dorf heiraten, lange bevor sie achtzehn sind.«
»Bei uns gilt alles unter dreißig als zu jung«, sagte Martin. »Wie ist es in ihrem Dorf?«
»Ich war noch nie dort. Es wird ein ganz neues Erlebnis für dich und mich sein. Ich freue mich darauf, Maltis Familie kennenzulernen. Wo bist du eigentlich aufgewachsen? Du sprichst nicht viel über deine Familie.«
»Ich habe eigentlich kein Zuhause mehr. Nicht im herkömmlichen Sinne. Aber weißt du, mir gefällt es überall auf der Welt ein Eckchen zu haben, in das ich mich hin und wieder verkriechen kann. Ich habe mich immer mehr für Menschen interessiert als für Orte. Solange ich meine Geige habe, kann ich fast überall leben.«
»Was ist mit deiner Familie?«
Martin beobachtete, wie ein Marienkäfer auf dem Grashalm in seiner Hand landete. Er erinnerte ihn an einen alten Vers, den seine Mutter aufsagte, sooft sie einen der kleinen Käfer sah. Er sollte Glück bringen. »Ich habe mich nicht besonders gut mit meinen Eltern verstanden, als ich noch zu Hause gewohnt habe. Sie wollten ständig, dass ich einen richtigen Beruf ausübe. Du weißt schon, Arzt, Rechtsanwalt … Sogar Busfahrer wäre ihnen lieber gewesen als Musiker. Es war nicht sehr gemütlich. Für keinen von uns. Sie konnten mich genauso wenig verstehen wie ich sie. Das musikalische Gen muss ich von irgendeinem fernen Vorfahren oder so geerbt haben.«
»Oder so«, wiederholte Kalu. »Besuchst du deine Eltern noch manchmal?«
»Ja, zu Weihnachten, wenn es sein muss. Ansonsten geht jeder seiner Wege. Ich bin eigentlich ganz zufrieden damit. So gibt es
weniger Streit. Weißt du, selbst nach all den Jahren fragt mein Vater mich immer noch, wann ich endlich einen anständigen Beruf ergreifen werde.«
»Du musst dir mehr Mühe geben, mein Freund«, sagte Kalu. »Du weißt gar nicht, was du für ein Glück hast, Eltern zu haben. Wünsch dir nichts anderes oder du wirst es bereuen.«
Martin lachte. »Wie sich die Dinge ändern. Als du klein warst, habe ich dir Vorträge gehalten. Jetzt ist es umgekehrt.«
*
Malti hielt den Kopf vorschriftsmäßig gesenkt. Das Gewicht des an ihrem Haar festgesteckten Saris erleichterte ihr diese Aufgabe. Die Mischung aus Gesängen, Kampferduft und Rauch vom Feuer machte sie benommen. Sie war erschöpft von den vierundzwanzig Stunden, die sie gefastet hatte, und den
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