Der Klang der Sehnsucht - Roman
stören. Kalu konnte nicht ausmachen, ob sie so mutig waren oder einfach nur dumm.
»Zuerst zu den Flöten oder ein bisschen ausruhen und frisch machen?«, fragte der Vaid. Sie sollten bei einem seiner Freunde in der Nariman Point Road übernachten. Kalu hatte keine Ahnung, wo oder wie weit das noch war.
»Zu den Flöten.« Kalu stupste den Vaid. »Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde etwas anderes sagen?«
»Nun, ich bin dafür, den Menschen die Wahl zu lassen. Es war eine lange Fahrt.« Er legte Kalu die Hand aufs Knie.
»Entschuldigen Sie, Dada, würden Sie sich lieber etwas ausruhen?«
»Das hätte ich schon gesagt.« Der Vaid brachte Kalu mit seinem grimmigen Stirnrunzeln, das so gar nicht zu seinem Augenzwinkern passte, zum Lachen. Zwar hatte der Guruji sich geweigert mitzukommen, aber Vaid Dada war der zweitbeste Begleiter für ihn, das wusste Kalu.
*
Sie bogen in eine enge Gasse ein. Eingezwängt zwischen einem Juwelier und einem großen Sari-Emporium, wirkte die Werkstatt des Flötenbauers klein und ein bisschen schäbig. Der Guruji hatte ihm erzählt, Bansubhai sei der beste und einzig wahre Flötenbauer, daher hatte Kalu sich sein Geschäft viel grandioser vorgestellt. Aber sein Guruji kannte sich aus.
»Bansubhai weiß, was er tut, und mein Bruder auch. Es ist also nicht nötig, dass ich mitfahre«, hatte er gesagt.
»Aber –«
»Schluss jetzt! Ich werde dieses Haus nicht verlassen.« Die Augen des Gurus funkelten. Er ging aus dem Zimmer. Wenige Minuten später rauschte ein musikalischer Sturm durch das ganze Haus.
Kalu sollte also seinen eigenen Satz Flöten bekommen. Jede von ihnen hatte einen anderen Anfangston und eine andere Länge.
Die Flöten wurden aus Bambus gefertigt. Während Kalus Rosenholzflöte einen vollen, erdfarbenen Klang besaß, erzeugte Bambus leichtere, süßere Töne, die dem Rauschen des Windes nach dem Monsun oder dem Ruf des Koyal glichen.
In einiger Entfernung plärrte ein Radio. Der Vaid stieg aus der Rikscha und bat Kalu, noch einen Moment sitzen zu bleiben. Erst jetzt bemerkte dieser, dass die Metalltür des kleinen Ladens verriegelt war. Der Vaid sprach mit ein paar Männern vor der Werkstatt, bevor er zurückkam.
»Unser Abenteuer geht weiter«, sagte er zu Kalu und gab dem Rikschafahrer neue Anweisungen. »Anscheinend ist es dieser Tage nicht ungewöhnlich, dass Bansubhai zu Hause arbeitet. Gestern Abend wurde wegen einer Demonstration eine Ausgangssperre in dieser Gegend verhängt. Wahrscheinlich fand er es deshalb sicherer, den Laden erst gar nicht aufzumachen. Ich habe die Adresse. Es ist nicht weit. Und da wir einen Termin haben, lohnt es sich vielleicht, bei ihm zu Hause vorbeizuschauen.«
»Er hat uns doch nicht vergessen?«
»Keine Angst, Kalu. Bansubhai hält immer Wort. Er hat die Bestellung angenommen, also sind deine Flöten auch fertig. Außerdem können wir notfalls noch ein paar Tage warten.«
Kalu wollte nicht warten. Diese Flöten waren etwas Besonderes. Er hatte eine ungeschriebene Prüfung bestanden, der zufolge der Guru es für richtig gehalten hatte, sie für ihn zu bestellen. Als Kalu angefangen hatte zu spielen, wäre er auf und nieder gesprungen oder hätte zumindest zu erfahren verlangt, warum und in welcher Hinsicht sein Spiel sich so verbessert hatte, dass der Guruji bereit war, ihm einen ganzen Satz Flöten zu kaufen. Doch nun, fünf Jahre später, hatte er stattdessen nur mit leicht gesenktem Kopf auf die nächste Anweisung gewartet und die
Wärme genossen, die aus dem Wissen kam, dass er wieder einen Schritt weiter gekommen war.
Das Haus, in dem Bansubhai wohnte, war hoch und schmal. Der Beton bröckelte, so dass man die Stahlträger sah. Vaid Dada und Kalu betraten den Hausgang und stiegen vier Treppen hinauf. Der Vaid läutete.
Ein Diener öffnete die Tür einen Spalt und schloss sie wieder, nachdem der Vaid ihr Anliegen erklärt hatte. Die Tür öffnete sich erneut. Diesmal stand ein Mädchen in Kalus Alter oder vielleicht etwas älter in einem einfachen weißen Salvar-Kamiz vor ihnen.
»Bitte kommen Sie herein«, sagte sie.
Sie zogen ihre Schuhe aus und folgten ihr in ein kleines Wohnzimmer, in dem ein einzelner Diwan stand.
»Seien Sie willkommen, Vaidji. Und du musst Kalu sein«, sagte das Mädchen, als der Bedienstete das Wasser brachte. Sie war sehr blass und hatte große Augen. Ob sie krank gewesen war? Kalu wandte sich Hilfe suchend an Vaid Dada.
»Ja, das ist Kalu. Wir haben eine Verabredung mit
Weitere Kostenlose Bücher