Der Klang der Sehnsucht - Roman
aufpassen, als wären sie ein Teil von dir. Die Verlängerung deiner Hände. Du wirst sie pflegen und darauf spielen. Überall. Nicht nur zur Übung oder zu besonderen Gelegenheiten, sondern auch wenn du spazieren gehst oder im Dorf bist. Du wirst sie in dein Leben einführen, bis sie dich verstehen und deine Gedanken in Musik verwandeln können. Du bist dazu bestimmt, Bansubhais Flöten zu besitzen, Kalu. Du wirst damit leben müssen, dass sie die letzten waren, die er geschaffen hat.
Das heißt jedoch nicht, dass sie oder etwas anderes deinem persönlichen Spiel in die Quere kommen dürfen. Du musst an einen Punkt gelangen, an dem du sie nicht mehr als Fluch, sondern als Geschenk betrachtest, so wie Bansubhai es gewollt hätte.«
*
Kalu saß unter dem Gulmohar-Baum. Er verzog das Gesicht, bevor er eine Flöte wählte, und ließ sich von den Bildern und Gefühlen inspirieren, die sie in ihm auslöste. Er schloss die Augen und spielte. Da war sie – Bansubhais Tochter.
Sein Lied war eine Klage um sie, was sie war und was sie hätte sein können. Die Traurigkeit in ihren Gesichtszügen und der Wunsch nach Trost, um den sie nicht bitten konnte. Immer festere Gestalt nahmen die Töne an, bis er das junge Mädchen tatsächlich durch die Straßen von Bombay auf die Bucht zugehen sah. Ihr Schmerz, während sie auf die sich brechenden Wellen blickte, durchdrang sein Spiel. Der Klang der Flöte wurde weicher, und er wusste, dass sie sich an die Ausflüge nach Juhu mit ihrem Vater erinnerte – damals, als seine Hand noch doppelt so groß wie ihre war. Wenn sie brav war, durfte sie auf einem Pony reiten. Wenn nicht, spendierte er ihr trotz allem einen Zuckerrohrsaft. Es war die Zeit, in der sie sicher war, dass er sie
nie verlassen würde. Die Zeit, bevor sie eines Besseren belehrt wurde.
Kalu dachte nicht darüber nach, woher er all dies wusste. Er hatte selbst solche Szenen nie erlebt. Stattdessen spielte er mit geschlossenen Augen weiter, als könnte er damit ihren Kummer für eine Weile in seine Hände nehmen. Er spielte von Dingen, die wuchsen. Von einem jungen Blatt, das sich langsam entfaltet. Den sich entwickelnden Beinchen einer Kaulquappe auf ihrem Weg zum Frosch. Das leise Krächzen einer flüggen Krähe. Von Dingen, die ihn froh machten. Und während er das tat, hob sie ihr Gesicht zum Himmel, und einen Augenblick lang lächelte sie.
Erschüttert von seiner Vision hielt Kalu inne. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Er wusste nicht, weshalb er weinte – über ihren oder seinen Verlust.
In diesem Moment, hoch oben, weit fort von allem, nur dem Wind und der Sonne ausgesetzt, erkannte Kalu, dass der Geist von Bansubhais Tochter ihn nicht mehr verfolgen würde, sondern dass durch die Flöten ihres Vaters die Wahrheit ertönte, wenn er es nur zuließ.
*
Bal machte sich auf den Weg durch die Felder. Der Mond schien hell und warf Schatten auf die Erde. Nach Sonnenuntergang verwandelten sich die Farben von Grün, Braun und Gold in Schwarz oder Grau. Die Silhouetten der Bäume oder Hochsitze wirkten eindrucksvoller als diese selbst. Ohne ihre Farben verschwammen die Details der Dinge, und es entstand eine neue Welt aus nur halb vertrauten Formen.
Die Luft war still. Bal kannte den Weg auch im Dunkeln, doch statt ihn zu sehen, roch und hörte er ihn nun eher. Der Rhythmus unter seinen Füßen schien ihn an die richtige Stelle zu führen.
»Bal! Wo bleibt denn Kalu? Die Mädchen werden schon nervös. Sie wollen unbedingt ihren Kalu spielen hören.«
»Er kommt, er kommt gleich«, sagte Bal und winkte dem Jungen zu, der ohne Unterlass auf ihn einredete.
Er war noch immer überrascht, wenn jemand ihn beim Namen rief. Dass überhaupt jemand wusste, wie er hieß. Er hatte sich daran gewöhnt, unsichtbar zu sein. Der Junge mit den Büffeln. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, die Leute schenkten den kleinen Vögeln auf den Köpfen der Büffel mehr Aufmerksamkeit als ihm. Doch in den letzten Jahren hatte sich das geändert. Sooft Kalu nach Hastinapore kam, wurde auch Bal zum Helden.
Kalu war berühmt – nicht nur wegen der wundersamen Heilung seines Fußes, sondern auch, weil der Guruji ihn als Schüler angenommen hatte, und vor allem wegen seines Flötenspiels. Kalu gab nichts auf Stand oder Status, er spielte genauso gern für die Büffel wie für Ganga Ba oder die Freunde seines Meisters. Kalu schien alle zu kennen. Oder eigentlich kannten alle ihn und damit auch Bal.
Bal hatte befürchtet, er würde seinen
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