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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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als wäre er ihr Eigentum. Manche hätten sich gekränkt gefühlt, wenn Kalu keine Zeit für sie gehabt hätte. Nur blieb auf diese Weise nicht mehr viel Raum für ihn selbst oder seine Musik.
    Er hatte sich angewöhnt, am frühen Morgen Bal zu besuchen, um auf den Feldern zu üben. Inzwischen wusste er die Stille zu schätzen.
    Bal genoss seine Gegenwart. Doch ein Leben, wie Kalu es nun
führte, hätte er nicht ausgehalten. Ständig wollte jemand mit ihm reden oder stellte ihm Fragen. Bal war es nicht gewöhnt zu plaudern, aber Kalus Anwesenheit und seine Musik waren etwas ganz anderes. Jedes Jahr gewann sein Spiel an Tiefe und wurde vollkommener. Leicht und beschwingt im einen Moment, ernst im nächsten. Und jedes Jahr trug der Klang seiner Flöte Bal in weite Ferne. An Orte, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
    Häufig saßen sie einfach schweigend zusammen. Mitunter zündete sich Bal noch eine Bidi an, blies den Rauch aus und fragte Kalu nach seinem neuen Leben. Er bewahrte diese Geschichten in seinem Herzen, so dass er sie sich erzählen konnte, wenn Kalu wieder fort war. Sein Freund hatte alles bekommen, was Bal sich für ihn gewünscht hatte. Kalu, der einzige Mensch, der sich etwas aus ihm machte, hatte seinen Weg gefunden. Und er vermochte so sanft und innig zu spielen, dass die Melodien Bal tief in seinem Innersten berührten und dieser seit langem wieder etwas empfand, das Leben des jungen Büffelhirten wurde lebenswerter.
    Kalu hatte sich verändert, doch nicht so, wie Bal befürchtet hatte. Aber er selbst hatte sich ja auch verändert. Beide Jungen waren größer und kräftiger geworden, ihre Stimmen tiefer. Kalu sprach etwas langsamer und überlegte länger, bevor er eine Meinung äußerte. Neue Kleidung trug er inzwischen ganz selbstverständlich, und der ausgehungerte Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden. Auch wenn Kalu noch immer sehr lebhaft war, zeigten sich seine Spontaneität und seine Freude nicht mehr so stark, außer beim Flötespielen. An diesem Morgen wirkte er jedoch anders. Er schien vor Energie zu sprühen.
    »Woran denkst du, Yar?«
    »An nichts, rein gar nichts. Einfach an den Tag«, sagte Kalu ertappt. Er wusste, dass er behutsam vorgehen musste. Das, was er zu sagen hatte, war heikel. Er überlegte, wie er Bal die Neuig
keit am besten beibringen sollte, und wartete, dass sie den Weg verließen und in die Wiesen kamen. Die Jungen ließen sich auf einem Felsen nieder, der sich über die Jahre zu einem bequemen Sitz entwickelt hatte. Die Büffel weideten in der Nähe.
    Kalu griff nach seiner Flöte. Bal saß neben ihm und wartete.
    »Bal?«
    »Ja?«
    »Wie würde es dir gefallen, von hier fortzugehen und bei mir zu wohnen?«, sprudelte es aus Kalu hervor. Er sah Bal mit glänzenden Augen an.
    Bal blinzelte. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Kalu gesagt hatte. Er verschränkte die Hände, damit sie nicht zitterten. »Bei dir? Von hier fort?«
    »Ja, ich habe den Guruji gefragt. Er hat nichts dagegen. Ashwin auch nicht. Er sagt, er würde sich über etwas Gesellschaft freuen. Wir müssten uns mein Zimmer teilen, aber es ist groß genug. Und«, er machte eine Pause, um Luft zu holen, »ich habe genug gespart, um dich auszulösen. Du wirst frei sein, Bal.« Kalu hatte sich ein bisschen beruhigt und sprach nun leiser, obwohl die Worte noch genauso rasch aus ihm heraussprudelten.
    »Ich wollte dir vorher nichts sagen, falls es nicht klappen würde. Aber eigentlich wusste ich, dass es klappt. Du bist frei und kannst tun und lassen, was du willst. Als ich fortgegangen bin, habe ich gesagt, ich würde dir helfen. Endlich kann ich es.«
    Bal wusste nicht, was er sagen sollte. Nicht einmal, was er denken sollte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich als Sklaven empfunden. Das war sein Schicksal, er würde ihm niemals entkommen. Zuerst begriff er nicht, was Kalu da sagte. Ihm war, als würde sein Inneres in sich zusammenstürzen. Stein um Stein. Als bräche sein Leben entzwei.
    »Und ich könnte bei dir wohnen?«
    »Ja, zu Hause wissen sie schon eine ganze Weile Bescheid.
Ashwin wollte mir Geld geben, der Guruji hat mir auch welches gegeben – aber am Ende habe ich es nicht benutzt. Ich wollte es allein schaffen, damit wir niemandem etwas schulden. Hier habe ich noch keinem davon erzählt. Ich wollte dich zuerst fragen, ob du einverstanden bist.«
    Kalu blickte seinem Freund ins Gesicht, der völlig benommen schien. Vielleicht hätte er Bal all dies schonender

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