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Der Klang des Herzens

Titel: Der Klang des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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sorgfältig gewählt, hatte gewartet, bis sie allein war. Es ging nur, wenn sie allein, wenn die Kinder nicht da waren.
    Er schob den Ring wieder in die Tasche zurück. Er würde warten. Er hatte Geduld. Er hatte alle Zeit der Welt.
     
    »Ja?«
    Er wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte. Er hatte fast zehn Minuten lang vergebens geklopft und war dann
ein paar Schritte zurückgetreten, um an dem Haus hinaufzuschauen, das ihn seit Wochen so sehr beschäftigte.
    Ein deutlicher Riss zeichnete sich an einem der oberen Fenster ab, zog sich schräg abwärts bis zum Boden – eine Absenkung oder Verwerfung, was nicht verwunderlich war, da das Haus an einem See lag und überdies von Wald umgeben war. Ein neues Fenster war schlampig eingesetzt worden. Unter dem Rahmen war ein dicker Spalt zu sehen, wo die Abdichtung fehlte. Vor dem Glas flatterte müde eine blaue Plastikplane. Das Dach war unfertig, die Plastik-Regenrinne nicht angeschlossen. Eine Hausseite war teilweise eingerüstet, aber zu welchem Zweck, war nicht erkennbar.
    Er trat noch einen Schritt zurück. Auf dem Rasen stand eine Ansammlung alter, schäbiger, nicht zueinanderpassender Gartenmöbel, doch selbst die konnten der Umgebung nichts von ihrer Schönheit nehmen. Der See machte alles wieder wett. Dieser herrliche, friedliche Ort besaß etwas, das man sonst nur an einem schottischen Loch oder irgendwo weiter draußen in der Wildnis fand. Aber dieser Teil von Norfolk lag noch nahe genug an London, um ihn für Pendler interessant zu machen – Mike Todd war ebenfalls dieser Meinung. In London arbeiten und auf dem Lande leben . Er konnte die Hochglanzbroschüre fast schon vor sich sehen. Vielleicht würden er und Laura ja eins der Häuser nehmen – dieser Ort besaß eine fast magische Ausstrahlung.
    Und dann war sie plötzlich da. Eine zerzauste Frau in einer zerknitterten Leinenbluse spähte blinzelnd zu ihm heraus. »Ja?«
    Er wusste einen Moment lang nicht mehr, was er sagen wollte, obwohl er es im Geiste so oft geübt hatte. Aber sie hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht.
    Dies war also die Frau, die Laura so viel Kummer bereitete.
    »Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe«, sagte er und kam
mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Sie erlaubte ihm, ihr die Hand zu schütteln. »Ich hätte vielleicht vorher anrufen sollen. Ich komme wegen des Hauses.«
    »Ach, du meine Güte. Das ging aber schnell.« Sie blinzelte wie eine Eule. »Wie spät ist es?«
    Er schob eine Manschette zurück. »Viertel vor zehn.«
    Das schien sie zu überraschen. Wie zu sich selbst sagte sie: »Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich eingenickt war … Hören Sie, ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Sie auch?«
    Sie ging ihm voran in die Küche. Er versuchte, seine spontane Abneigung ihr gegenüber zu unterdrücken. Was er erwartet hatte, wusste er selbst nicht – jedenfalls nicht jemanden, der so chaotisch, so zerknittert aussah. Eine irgendwie berechnendere Frau.
    »Hier, bitte«, sagte sie. »Nehmen Sie Platz. Das ist jetzt vielleicht eine dumme Frage, aber haben Sie hier irgendwo Kinder gesehen?«
    Die Küche gehörte dringend renoviert. Hier war seit Jahrzehnten nichts mehr geschehen. Nicholas’ Blick fiel auf das rissige Linoleum, auf die verblasste Wandfarbe. Fotos hingen willkürlich an den Wänden, dazwischen getrocknete Blumen und ein angemalter Lehmbrocken – klägliche Versuche, eine Umgebung, die er, ehrlich gesagt, für unbewohnbar gehalten hätte, etwas gemütlicher zu machen. Durchs Fenster sah er, dass draußen unter dem Wandvorsprung überall Netze voller Obst und Gemüse hingen wie farbige Tropfen.
    Sie füllte einen Wasserkessel und setzte ihn auf. Dann streckte sie den Kopf in die Speisekammer, nahm einen offenen Milchkarton und schnüffelte daran. Ging noch. Gerade noch. »Wir haben keinen Kühlschrank.«
    »Für mich schwarz, bitte«, erklärte er steif.
    »Kann ich Ihnen nicht verübeln«, sagte sie und stellte die Milch wieder zurück. Als sie ihm seinen Kaffee reichte, fiel ihr auf, mit welchem Gesichtsausdruck er sich umsah.

    »Das ist der einzige Raum, in dem noch nichts gemacht worden ist«, erklärte sie, wie um sich zu verteidigen. »Hier sieht’s noch genauso aus wie früher, als mein Großonkel noch hier lebte. Möchten Sie sich mal umsehen?«
    »Wenn ich darf.«
    »Sie müssen sich ja alles ansehen.«
    Wer konnte ihr verraten haben, dass er kommen würde? Er hatte erwartet, dass sie abweisend, ja misstrauisch sein würde.

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