Der Klang des Herzens
hatte. Sie hatten sich am Ende zu dritt in das große Bett gekuschelt, vollkommen erschöpft von den Anstrengungen dieses Tages und der Suche nach ein paar bewohnbaren Zimmern. Isabel hatte über diese Suche ganz vergessen, im großen Schlafzimmer die Heizung aufzudrehen, sodass sie, als sie gegen zweiundzwanzig Uhr müde zu Bett gehen wollten, anstatt von einem warmen Zimmer von einer zugigen, kalten Höhle und klammer Bettwäsche empfangen wurden. Die Ungemütlichkeit dieser Höhle wurde noch verstärkt durch das rhythmische Tropfen von Wasser in die Zinkwanne, die im zweiten Stock stand.
Sie beschlossen daraufhin, sich zu dritt ins Bett zu legen, weil man auf diese Weise am besten warm blieb. Zumindest hatten sie sich das eingeredet. Isabel, die zwischen ihren beiden schlafenden Kindern lag, wusste, dass sie die tröstliche Anwesenheit einer Mutter jetzt am dringendsten brauchten – etwas, das sogar sie zustande brachte, einfach, indem sie existierte.
Was habe ich bloß getan?, fragte sie sich. Sie lauschte dem Rattern der Fensterscheiben in den Rahmen, dem unheimlichen Knarren und Ächzen des Hauses, dem geschäftigen Herumhuschen unsichtbarer kleiner Wesen oben im Speicher. Draußen war es geradezu unnatürlich still. Keine vorbeifahrenden Autos, keine Schritte von Fußgängern, überhaupt keine Zivilisationsgeräusche. Der weite See und der Wald schluckten alle Geräusche. Auch die Dunkelheit war schier erdrückend – keine Straßenlaternen, keine Lichter aus einem Nachbarhaus. Sie kam sich fast vor wie in einer urzeitlichen Wildnis und war froh, dass die Kinder bei ihr lagen. Verstohlen streichelte sie ihre schlafenden Gesichter. Dann griff sie vorsichtig über Thierrys Kopf hinweg und überzeugte sich davon, dass ihr Geigenkasten noch dort lag, wo sie ihn hingelegt hatte.
»Was habe ich bloß getan?«, flüsterte sie. Ihre Stimme hörte sich in der Schwärze körperlos an. Sie versuchte, sich Laurents Gesicht vorzustellen, seine Stimme, und sie versuchte zu empfinden, wie er sie tröstete, doch es gelang ihr nicht. Da verwünschte sie sich dafür, hierhergezogen zu sein, und weinte sich in den Schlaf.
Aber der neue Morgen kam, und wie ein Sprichwort sagte, würde am Morgen alles besser sein. Und so war es auch diesmal. Als sie die Augen aufschlug, lag sie allein im Bett. Es war ein heller, schöner Tag mit einem Frühlingslicht, das sogar die hässlichste Umgebung bezaubert, Spatzen zankten sich zwitschernd in den Hecken und flogen gelegentlich am Fenster vorbei. Unten dudelte ein Radio, und sie hörte ein hohes Summen, das ihr verriet, dass Thierry ein ferngesteuertes Auto durch die weiten Räume des Hauses jagte. Ihr erster bewusster Gedanke war: Dieses Haus ist wie wir, verloren, verlassen. Jetzt wird es sich unserer annehmen, und wir werden es wiedererwecken.
Dieser Gedanke half ihr aufzustehen – und dann auch, sich mit eiskaltem Wasser zu waschen, denn weder ihr noch Kitty war es am Tag zuvor gelungen, das antike, verschlungene Heizsystem in Gang zu bringen. Danach schlüpfte sie in dieselben Sachen, die sie nachts und am Tag davor angehabt hatte – bisher hatte sie die Umzugskiste noch nicht gefunden, in die sie die robusten Kleidungsstücke gepackt hatte, die sie in diesem Haus zunächst brauchen würde. Langsam stieg sie die Treppe hinunter. Dabei fielen ihr all die kleinen und größeren Schäden auf, die ihr am Vortag noch entgangen waren: Hier löste sich der Putz, dort war ein angefaulter Fensterrahmen, und hie und da fehlten Holzdielen … Es wollte gar nicht aufhören. Immer eins nach dem anderen, befahl sie sich, als die Situation sie zu überwältigen drohte. Wir sind hier, und wir sind zusammen. Das ist es, was zählt. Ihr fielen ein paar Takte Musik ein: aus Dvor̆áks Sinfonie aus der Neuen Welt . Irgendwie passend, fand sie. Ein gutes Zeichen.
Aber als sie die Küche erreichte, vergaß sie die Musik.
»Kitty!«, rief sie fassungslos.
Ihre Tochter hatte ganze Arbeit geleistet: Die Regale waren ausgeräumt und sauber gewischt, die Oberflächen waren zwar immer noch zerkratzt und rissig, aber nun fleckenrein sauber und staubfrei. Der Fußboden war auch einige Grade heller als gestern, und durch die sauberen Fenster hatte man nun einen schönen Blick auf den Garten. Kitty hatte außerdem die schlimmer verschmutzten Töpfe und Pfannen im großen Spülbecken in heißer Seifenlauge eingeweicht und auf dem Elektroherd einen Topf Wasser aufgesetzt. Sie war gerade dabei, das
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