Der Klang des Herzens
Kitty?«, rief sie zögernd. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie zu ihnen hätte sagen sollen.
Kurz darauf streckte sie versuchsweise den Kopf in die Küche. Kitty saß mit hängenden Schultern über einer Zeitschrift und trank einen Becher Tee. Sie blickte auf und schaute Isabel mit einer Mischung aus Trotz und schlechtem Gewissen an. Auf der Wange hatte sie einen Rußfleck. »Ich wollte ihn nicht so anfahren«, gestand sie kleinlaut.
»Ich weiß, Liebes.«
»Er leidet immer noch unter allem.«
»Wir doch auch. Thierry hat nur … seine eigene Art, das zu zeigen.«
»Es ist einfach nur … das hier ist unmöglich, Mum. Das musst du doch einsehen. Es gibt weder Heizung noch Warmwasser. Wie sollen wir uns sauber halten? Thierry muss am Montag in seiner neuen Schule anfangen. Wie willst du seine Sachen waschen?«
Isabel versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr dieser
Gedanke noch gar nicht gekommen war. »Na, dann gehe ich eben in einen Waschsalon. Bis die Waschmaschine angeschlossen ist.«
»Waschsalon? Mum, hast du das Dorf nicht gesehen ?«
Isabel ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Irgendwo muss es einen Waschsalon geben. Dann fahre ich eben in die nächste Stadt.«
»Aber die Leute gehen nicht mehr in Waschsalons. Sie haben Waschmaschinen.«
»Dann wasche ich seine Sachen eben mit der Hand und föhne sie trocken.«
»Können wir nicht wieder nach Hause fahren?«, flehte Kitty. »Wir werden das Geld schon irgendwie auftreiben. Ich könnte mit der Schule aussetzen und ein Jahr lang arbeiten gehen. Irgendwas kann ich sicher tun. Das wird schon irgendwie.«
Isabel spürte schmerzhaft ihre Unzulänglichkeit.
»Ich werde dir helfen, Mum, ganz ehrlich. Und Thierry auch. Selbst arm sein ist besser als das hier. Hier ist’s einfach fürchterlich. In so einem Haus – da würde doch höchstens ein Landstreicher hausen.«
»Liebes, es tut mir leid, aber das Haus in Maida Vale ist bereits verkauft. Wir können nicht mehr zurück. Und je eher du dieses Haus hier als dein neues Zuhause betrachtest, desto leichter wird es für dich. Für uns alle. Schau doch nicht nur auf die Probleme; versuche auch das Schöne zu sehen. Stell dir vor, wie’s hier einmal sein könnte. Schau«, sagte sie in versöhnlichem Ton, »jeder Neueinzug ist problematisch, das ist wie Zahnen. Ich sag dir was – ich werde einen Klempner anrufen, der uns den Warmwasserboiler repariert. Und dann rufe ich uns noch einen Kaminkehrer. Das alles ist schneller vorbei, als du dir vorstellen kannst, wirst sehen.« Es war immerhin ein Plan. »Das Telefon funktioniert, also werde ich’s gleich machen.«
Isabel verließ mit einem aufmunternden Lächeln die Küche. Allerdings wusste sie nicht, ob sie sich nur so schnell wie möglich an die Arbeit machen wollte oder ob sie vor dem tief enttäuschten Gesicht ihrer Tochter davonlief.
Die orientalische Quiltjacke ihrer Mutter wirkte in diesem schäbigen alten Haus regelrecht fehl am Platz. Kitty legte ihre Zeitschrift weg und stützte den Kopf in die Hände, suchte ihre Haarenden nach splissigen Spitzen ab. Als ihr das langweilig wurde, fragte sie sich, was sie wohl sonst noch in der Küche machen konnte. Ihre Mutter hatte sie wegen ihrer Säuberungsaktion über den Klee gelobt, aber Kitty hatte es nur deshalb gemacht, weil es das Einzige war, was sie davon abhielt, in Tränen auszubrechen. Wenn sie arbeitete, konnte sie sich vorstellen, dass alles nur ein Abenteuer war. Und man konnte hinterher sehen, was man geschafft hatte. Sie konnte, wie es die Schulberaterin ausgedrückt hatte, »das Heft in die Hand nehmen«. Aber sobald sie aufhörte, musste sie an Dad denken oder an ihr Haus in London oder an Mary, die beim Abschied geweint hatte, als ob sie ihre eigenen Kinder verlieren würde. Und deswegen wollte sie Mum anschreien, weil Mum die Einzige war, die man noch anschreien konnte. Aber das konnte man ja nicht. Mum war irgendwie zerbrechlich. Fast selbst wie ein Kind, hatte Mary gesagt. »So was findet man oft bei Menschen, die ein großes Talent haben. Sie mussten nie erwachsen werden. Stecken ihre ganze Energie in das, was sie lieben.« Kitty hatte nie herausfinden können, ob sie es als Kritik gemeint hatte oder nicht.
Aber Mary hatte recht, und als Kitty klein gewesen war, hatte sie die Guarneri so gehasst, dass sie sie öfters versteckt hatte. Voller Schuldgefühle, aber seltsam fasziniert hatte sie dann zugesehen, wie ihre Mutter kreidebleich durchs Haus stürmte und
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