Der Klang des Herzens
verzweifelt nach ihrem Instrument suchte. Dieses Instrument hatte ihrer aller Leben beherrscht. Wenn Mum
übte, durfte sie natürlich nicht gestört werden. Auch durfte man den Fernseher dann nicht zu laut aufdrehen. Und man durfte sich nicht beklagen, wenn Mum mal wieder auf Konzerttournee musste und längere Zeit von zu Hause weg war. Es durfte einem nichts ausmachen, dass Mum nie draußen mit einem rumtollte oder etwas mit einem bastelte, weil sie ja ihre Hände schonen musste. Zu Kittys nachhaltigsten Erinnerungen gehörte, wie sie stumm vor Mums Tür gesessen und ihrem Geigenspiel gelauscht hatte – als ob sie ihr dadurch irgendwie hätte näherkommen können.
Beinahe wäre sie ein Einzelkind geblieben, denn ihre Mutter hatte eigentlich keine weiteren Kinder gewollt, da sie fürchtete, zwei Kinder würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen – Zeit, die sie für ihren Beruf brauchte. Aber selbst nachdem Thierry völlig unerwartet auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie ihre Kinder nie zu Schulveranstaltungen oder Korbballspielen begleitet, weil sie spielen musste. Wenn ihr älter seid, werdet ihr das verstehen, hatte ihr Vater gesagt. Wenn ihr das im Leben gefunden habt, worin ihr richtig gut seid.
Daher war es Mary gewesen, die meist mitgekommen war; sie hatte Vater auf so viele Veranstaltungen der Kinder begleitet, dass die meisten Leute geglaubt hatten, sie sei mit ihm verheiratet.
Kitty merkte plötzlich, wie böse sie war, böse und trotzig wie ein Kind. Ich hasse dieses Haus, dachte sie. Ich hasse es, weil Dad und Mary nicht hier sind. Und weil ich nicht mal ich selbst sein darf.
Der Klempner versprach, am nächsten Tag zu kommen, machte sie aber darauf aufmerksam, dass er das als Notfalleinsatz würde berechnen müssen. Als sie ihm erklärte, sie wisse nicht genau, was los sei, dass das Haus lange unbewohnt gewesen sei, hatte er schwer geseufzt und gesagt: »Ich kann Ihnen keine
Garantien geben, hören Sie? So alte Häuser, alte Rohre – keine Garantien, klar?« Sie hatte ihn beschwichtigt, sich entschuldigt und sich hinterher dafür gehasst.
Der Kaminkehrer dagegen war weit freundlicher, stieß einen Pfiff aus, als sie ihm die Adresse nannte, und meinte, diese Kamine habe er zuletzt vor fünfzehn Jahren gekehrt. »Der Alte war ein Geizkragen«, sagte er. »Hat, soweit ich weiß, jahrelang in einem einzigen Zimmer gehaust und den Rest verfallen lassen.«
Ja, es sei tatsächlich ein wenig … renovierungsbedürftig, gab sie zu. Als er meinte, er könne gleich am selben Nachmittag noch vorbeikommen, bedankte sie sich überschwänglich bei ihm. »Ich werd’ Ihnen gleich’n paar Klafter Feuerholz mitbringen, wenn Sie möchten. Ich mach hier in der Gegend viele Häuser.«
Die Aussicht auf ein warmes Kaminfeuer hob Isabels Laune beträchtlich. Sie legte auf und dachte, wie klein und verloren ihre Möbel in dem großen Haus wirkten – obwohl so viele Räume unbenutzbar waren. Aber ein schönes Kaminfeuer, und alles sieht gleich viel besser aus, stellte sie sich vor.
Dann überlegte sie, wie sie das trostlose, düstere Wohnzimmer ein wenig hübscher machen konnte. Ein Kaminfeuer würde natürlich helfen, aber es sollte wenigstens einen Raum im Haus geben, in dem es gemütlich war, in dem man sich wohlfühlen konnte, selbst wenn sie die anderen erst mal leer stehen ließen. Die Südseite schien ihr ein klein wenig trockener zu sein und auch weniger baufällig; also begann sie dort einen Raum einzurichten. Sie schleppte ein paar Teppiche herbei, zwei Bilder, ein Tischchen, eine Vase und versuchte, dem Zimmer damit eine wärmere Note zu geben. Die Teppiche konnten den weitläufigen Holzboden zwar nicht ganz zudecken, doch konnte sie so immerhin die schlimmsten Schäden kaschieren. Ebenso hängte sie die Bilder an Stellen, an denen der Putz abbröckelte, und schob einen Sessel vor
eine Ecke, in der über den Bodenleisten Schimmel die Wände hochkroch. Sie schüttelte die Vorhänge aus und musste husten, als daraufhin eine mächtige Staubwolke aufstieg. Dann begutachtete sie ihre Bemühungen. Nicht ganz Maida Vale, aber immerhin ein Anfang.
Draußen sah sie Thierry auftauchen, eine bedrückte kleine Gestalt im grünen Pulli, der aus dem kahlen Grau und Braun der Landschaft deutlich hervorstach. Er hatte einen langen Ast in der Hand und schlug damit sporadisch auf irgendwelche Büsche ein. Sein Atem stand in kleinen Wölkchen vor seinem Gesicht. Sie sah, wie er sich mehrmals verstohlen mit dem
Weitere Kostenlose Bücher