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Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Titel: Der Klang des Pianos: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Büchle
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und mit Sicherheit sehr zuverlässig, doch der junge Mann hatte offenbar noch nicht realisiert, dass er nur ein Leben zur Verfügung hatte und dass dieses aus mehr bestand als nur aus Arbeit und dem Streben nach Wohlstand und Ansehen.
    „Wann darf ich mich morgen bei der jungen Dame anmelden lassen?“, erkundigte er sich bei ihr.
    Bei der umständlichen Formulierung seiner Frage gelang es Norah nur mühsam, ein Lachen zu unterdrücken. „Ich wäre gern um sechs Uhr in der Innenstadt.“
    Norah bemerkte, wie seine Augen sich für den Bruchteil einer Sekunde verwundert weiteten, und auf seiner Stirn erschienen erneut die beiden ihr nun schon bekannten Querfalten. Bevor er etwas einwenden konnte, erklärte sie: „Ich mag es, durch die noch ruhigen und leeren Straßen und Gassen einer Stadt zu spazieren und dabei zu beobachten, wie sie langsam zum Leben erwacht.“
    Als Richard noch immer nichts erwiderte, zog sie kurz die Schultern in die Höhe. „Oder müssen Sie morgen erst einmal zur Arbeit? Ich dachte, mein Onkel hätte Sie für die Zeit meines Aufenthaltes freigestellt?“
    Es war offenbar nicht einfach, den Mann zu einer Entscheidung zu bewegen. Anscheinend wog er immer erst sehr sorgfältig jedes Für und Wider ab. Norah, die eigentlich immer aus dem Bauch heraus handelte und sich dabei bemühte, jeden Atemzug als ein Geschenk zu sehen und zu genießen, legte den Kopf leicht zur Seite und wartete ungeduldig auf eine Antwort.
    Ihr älterer Bruder, Adam, war ebenfalls ein eher ruhiger, bedacht agierender Mann, doch die übervorsichtige Konzentriertheit ihres Gesprächspartners empfand sie beinahe als anstrengend. Es würde eine Herausforderung darstellen, diesem gut aussehenden jungen Mann ein wenig neues Leben einzuhauchen. Ob es ihr in der kurzen Zeit gelingen würde? Jedenfalls hatte sie für die zwei Wochen ihres Aufenthaltes in Freiburg eine herausfordernde Aufgabe gefunden.
    „Das hat er, natürlich“, erwiderte Richard endlich und verschränkte seine Hände erneut hinter dem Rücken. „Ich werde also um kurz vor sechs hier sein, Fräulein Casey.“
    „Danke!“, jubelte sie, wirbelte herum und lief die Stufen hinauf bis zur Tür, die ihr von einer der Hausangestellten bereits aufgehalten wurde.
    In der Halle traf Norah auf Betty Welte. Die Dame des Hauses hatte sich bereits für die Abendmahlzeit umgezogen und trug ein langes Kleid, dessen tiefes Weinrot durch das schräg einfallende Licht der Abendsonne in den unterschiedlichsten Schattierungen aufleuchtete.
    „Ich wollte schon jemanden auf die Suche nach dir losschicken, Kind. In zehn Minuten gibt es Essen“, sagte sie sehr langsam und in korrektem Schriftdeutsch, damit sie von Norah verstanden wurde.
    „Ich bin gleich fertig, Betty“, entgegnete diese schnell auf Englisch und warf einen weiteren, kritischen Blick auf das rote Kleid, denn so eine exquisite Garderobe hatte sie nicht vorzuweisen.
    „Hättest du dich nicht lieber ein wenig ausgeruht?“, wollte Betty wissen, und diesmal hatte Norah Mühe, sie zu verstehen, da ihre Gastgeberin in ihren Dialekt verfallen war. Diese bemerkte wohl Norahs Irritation, denn sie wiederholte ihre Frage ein wenig langsamer und deutlicher.
    Norah antwortete ebenso langsam, dass es ihr gut gehe, und folgte der noch immer wartenden Hausangestellten zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Vielleicht sollte sie tatsächlich vorsichtig sein, was das Offenlegen ihrer Sprachkenntnisse anbelangte. Wenn ihre Verwandten herausfanden, dass sie keinen Dolmetscher benötigte, könnten sie am Ende noch auf den Gedanken kommen, ihr aus Schicklichkeitsgründen eine Frau als Begleitung zur Seite zu stellen. Aber Richard hatte trotz seiner steifen Korrektheit durchaus auch seine Vorzüge. Immerhin war er ein Mann und konnte vielleicht sogar ein Automobil fahren. Mit einem motorisierten Wagen würden sich ihre Aussichten, möglichst viel von der hiesigen Gegend zu sehen, erheblich vergrößern. Außerdem reizte es sie, den immer so gebremst wirkenden Instrumentenbauer ein wenig herauszufordern.
    Norah blieb unter dem Türrahmen stehen und bestaunte ihr Gästezimmer mit den schweren beigen Vorhängen, der zierlichen Kommode aus edlem Kirschholz und der gemusterten Stofftapete. Das Bett, das ebenfalls aus Kirschholz gefertigt war und auf schlanken Beinen stand, war mit einem Überwurf abgedeckt, der dieselbe Farbe aufwies wie die Tapete und die Vorhänge. Seine langen Fransen an den Seiten berührten beinahe den dunklen Teppichboden.

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