Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
er sich für die nächsten Tage wohl verabschieden müssen. Diese Norah ließ sich in kein Schema pressen, das hatte er bereits festgestellt. Vermutlich würde sie morgen früh um 6:00 Uhr noch nicht einmal auf sein, wenn er an der Tür klingelte. Oder aber sie war tatsächlich ausgehbereit, wollte am übernächsten Tag dafür aber bis 10:00 Uhr morgens im Bett liegen bleiben, um sich dann den Rest des Tages von einer Aktivität in die nächste zu stürzen. Wer sollte das bei diesem unberechenbaren Geschöpf schon im Voraus einschätzen können?
Und dabei hatte er vor ihrem Eintreffen bereits einen Plan aufgestellt gehabt, wann er den Welte-Gast wo herumführen und zu abendlichen Einladungen begleiten würde. Richard öffnete die Augen. Eines würde ihm in diesen Tagen vermutlich nicht werden: langweilig. Und dabei konnte er Norah nicht einmal böse sein, denn auf ihre spezielle Art war sie durchaus reizend.
Als der Wasserkessel durchdringend zu pfeifen begann, sprang er auf, eilte hinüber und bereitete sich einen Tee zu. Mit der Tasse in der Hand stapfte er gerade zurück zum Wohnzimmer, als es kräftig an der Wohnungstür klopfte.
Richard blickte verwundert auf, stellte die Tasse auf den Tisch und ging zur Tür. Er schob den graublauen Vorhang vor der Glasscheibe beiseite, aber im Dämmerlicht des dunklen Flurs konnte er nicht mehr als einen schmalen Umriss ausmachen. Da er niemals Besuch bekam – schließlich hatte er keine Zeit, um Freundschaften zu pflegen –, öffnete er zögernd die Tür einen Spaltbreit.
Einer der Angestellten der Weltes, ein älterer Mann mit weißem Vollbart, stand auf dem obersten Treppenabsatz. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Martin. Das ist für Sie.“ Er reichte ihm, verbunden mit einer knappen Verbeugung, eine zusammengefaltete Nachricht.
Richard nahm das weiche, blütenweiße Papier entgegen und dankte dem Boten, der jedoch zögernd auf dem oberen Treppenabsatz verharrte.
Irritiert musterte er ihn einen Augenblick, ehe er sich bei ihm erkundigte: „Warten Sie auf eine Antwort?“
„Nein, ich denke nicht.“
„Ach so, natürlich“, murmelte Richard, der in diesem Augenblick sein Versäumnis erkannte. „Entschuldigen Sie bitte. Einen Moment.“ Peinlich berührt wandte er sich zur Garderobe um, holte seine Geldbörse aus dem Jackett und reichte dem Mann eine Münze.
„Danke, Herr Martin. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.“
„Ja“, lautete Richards unaufmerksame Antwort.
Während das Poltern eiliger Schritte durch den engen Flur hallte, schloss Richard die Tür. Sein Blick ruhte auf dem Blatt Papier in seiner Hand, und er faltete es mit bedächtigen Bewegungen auseinander.
Die Nachricht stammte von Edwin Welte. Sein Vorgesetzter entschuldigte sich für die späte Störung, doch er und seine Frau hätten Gäste, und es sei die Anwesenheit eines Dolmetschers erforderlich.
Richard warf einen sehnsüchtigen Blick auf die dampfende Teetasse in seiner Stube. Warum übersetzte Herr Welte nicht selbst? Bereitete ihm der irische Akzent seiner Verwandten erhebliche Probleme? Nach Richards Kenntnisstand sprach und verstand Norah die deutsche Sprache ausgezeichnet, und es war anzunehmen, dass die anwesenden Gäste aus einer Gesellschaftsschicht stammten, die kaum Schwierigkeiten damit haben würde, den badischen Dialekt zumindest zu unterdrücken.
Andererseits … was war das für eine Chance! Ein Abend bei den Weltes, die sicher wichtigen, gesellschaftlich hochgestellten Besuch hatten!
Richard warf die Nachricht auf die Ablage und stürmte an seinen Kleiderschrank. Innerhalb kürzester Zeit hatte er seinen besten Anzug angezogen und seine ohnehin penibel sauberen Schuhe poliert, um daraufhin in freudiger Erregung seine Wohnung zu verlassen.
Kapitel 4
Richard begrüßte den Seniorchef, Berthold Welte, anschließend Karl Bokisch und seine Frau Frieda – die Schwester von Edwin Welte –, einige Ehepaare sowie ein paar jüngere Damen, die wohl eigens zu Norahs Gesellschaft eingeladen worden waren. Außerdem befand sich unter den Gästen ein Vertreter des Flügelherstellers Steinway & Sons aus deren Hamburger Niederlassung.
Richard fiel an der Garderobenwahl der Herren wieder einmal die zunehmende Militarisierung innerhalb des Deutschen Reichs auf. Immer mehr Männer aus gutem Hause griffen bei offiziellen Anlässen zu ihren Uniformen anstatt zu einem Frack. Damit wiesen sie sich als Reserveoffiziere verschiedenster Armeeeinheiten aus. Der Anblick
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