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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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aufflackerte, allem körperlichen Verfall Hohn sprach.
    Es war unmöglich, Patty, dir von meinem Verdacht, ja eigentlich meiner Gewißheit zu erzählen. Du hättest wissen wollen, woher ich von Mamans Schießkünsten wußte, und du würdest nicht verstanden haben, daß ich dir von den Fotos nicht schon damals erzählt hatte, zu einer Zeit, als wir zusammen noch ein einziges Leben lebten, in dem es auch nicht den Schatten eines entzweienden Risses geben durfte. Ich hätte dir von dem zerrissenen Foto erzählen müssen und allem, wofür es stand. Ich ging in meinem dunklen Zimmer auf und ab und probierte aus, ob das möglich wäre. Es erschien mir undenkbar, und ich bin froh, es jetzt dem Papier anvertrauen zu können und deinen Blick nicht auf mir zu spüren.
    Wenn ich recht hatte, saß Vater unschuldig in einer Zelle, weil er Maman vor dem Gefängnis bewahren wollte. Ich weiß nicht, welchen Namen ich den Gefühlen geben soll, die mich bei diesem Gedanken überwältigten. Ich dachte an seine beiden Briefe, und eine Welle der Scham schlug über mir zusammen. Das konnte ich nicht wiedergutmachen, Vater. Aber jetzt wollte ich in deiner Nähe sein, auch wenn das nur bedeuten konnte, mitten in der Nacht vor dunklen Gefängnismauern zu stehen.
    Bevor ich das Haus verließ, ging ich unten mit zögernden Schritten den Gang entlang bis zu Mamans Zimmer. Durch den schmalen Türspalt sah ich sie vor der Schreibplatte des Sekretärs sitzen. Gedankenverloren schraubte sie die Kappe auf den Füller, nur um sie im nächsten Moment wieder abzuschrauben; die gleichen ziellosen Bewegungen wiederholten sich stets von neuem. Die lange Asche der Zigarette würde gleich aufs leere Papier fallen. Il est en prison. Jetzt verstand ich den schuldbewußten Ton, in dem sie die Worte bei der Begrüßung gesagt hatte. Wie kannst du hier so ruhig sitzen in deinem maßgeschneiderten Kleid, wollte ich schreien, während Vater auf einer Pritsche liegt und auf die schwere, häßliche Tür mit dem Schieber starrt, noch immer das hallende Geräusch im Ohr, das die großen Schlüssel machten! Die Asche fiel aufs Papier. Maman schien es nicht zu bemerken. Gerade wollte ich mich abwenden, da streckte sie langsam, wie in Trance, den Arm aus, um eine der kleinen Schubladen mit den Perlmuttgriffen herauszuziehen. Ohne jeden Übergang (so, als seien die beiden Bilder Anfang und Ende einer Absence) sah ich ihren gestreckten Arm vor mir, der die Pistole hielt. GP hatte in diesem Bild nichts zu suchen, ich hatte ihn ausgelöscht. Mit einemmal waren Wut und Vorwurf wie nie gewesen; statt dessen empfand ich eine merkwürdige, verschwörerische Art von Stolz für Maman und ihre kaltblütige Tat. Sie schniefte. Das Morphium; nach all den Jahren waren die Nasenschleimhäute vollständig ausgetrocknet. Aus der Schublade hatte sie zwei rosafarbene Karten genommen, die sie jetzt betrachtete. Nach einer Weile erinnerte ich mich: Es waren die Eintrittskarten zur Mailänder Scala, zu jener legendären Vorstellung von Tosca , zu der sie mit Vater gereist war. Jetzt sah ich auch die Risse, durch die man sie entwertet hatte. Es war pathetisch, wie Maman über die Karten strich, das eine Mal, als wolle sie die Risse rückgängig machen, dann wieder, als wolle sie sie liebkosen. Doch vielleicht war es nur mein zudringlicher Blick, der die Gesten pathetisch machte. Rasch verließ ich das Haus.

    Das erste, was meinen Blick gefangennahm, als ich vor das Gefängnis trat, waren die drei Fenster, hinter denen noch Licht brannte. Mit schmerzenden Augen versuchte ich, die Schatten hinter den Gitterstäben zu entziffern. Keinen Augenblick, Vater, habe ich gezweifelt, daß eines der erleuchteten Fenster deines war. Die Schatten bewegten sich nur selten, und je länger ich nach oben starrte, desto weniger war ich sicher, was davon Einbildung war. Ich hätte alles darum gegeben, dich zu sehen, und zugleich hoffte ich, dein Gesicht nicht sehen zu müssen, wie es von Gitterstäben durchschnitten wurde. Ich nahm Zuflucht zu der Vorstellung, du säßest in dem kargen Raum an einem Tisch und hättest das Notenpapier vor dir, das dir Patty gebracht hatte. In dem alten braunen Anzug aus der Junggesellenzeit, um den du gebeten hattest, saßest du da wie immer, mit ungebeugtem Rücken auf dem äußersten Rand des Stuhls, die Beine in Bereitschaft wie bei einem Pianisten. Du hattest mit einer neuen Oper begonnen. Ich hörte das Kratzen der Feder auf dem Papier. Nichts konnte dir etwas anhaben.
    In

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