Der Klavierstimmer
diesem Augenblick ging mit einem Schlag hinter allen drei Fenstern das Licht aus. Wie grausam diese gesteuerte Gleichzeitigkeit war, die in ihrer mechanischen Präzision etwas von einer Hinrichtung hatte! Von einer Kirche schlug es zehn. Ich ertappte mich bei dem absurden Gedanken, sie hätten mit dem Löschen wenigstens warten können, bis der letzte Schlag verklungen war. Für eine Weile trotztest du in meiner Vorstellung der verhängten Dunkelheit. Wie ein blinder Schachspieler seine Züge in den lichtlosen Raum hinausdiktiert, wiesest du deine Hände an, die Noten für eine Ouvertüre zu schreiben, deren berauschende Leichtigkeit allen Gefängnismauern dieser Welt spottete. Ich wußte, Vater, daß du das konntest, das und noch vieles mehr, du saßest dort drinnen wie ein Mann aus Granit, mit unbeugsamem Willen und überlegenem Verstand, da mochten sie noch so viele Türen verriegeln und noch so viele Lichter löschen. Doch dann ergriff die schweigende Dunkelheit der schrecklichen Festung Besitz von dir, das dunkle Schweigen drang unaufhaltsam auch in deine Zelle ein und zermalmte dich.
Ich hatte nicht gewußt, daß es das gibt: daß man das Gewicht eines Gebäudes im eigenen Körper spüren kann. Mit verdoppelter, verdreifachter Schwerkraft lasteten die dicken Mauern auf dem Grund, sie waren für die Ewigkeit gemacht und würden alle Kirchen der Stadt, wiewohl sie aus dem gleichen Backstein bestanden, überdauern. So schwer lastete das Gebäude mit seiner gestochen scharfen Silhouette aus Stacheldraht und Eisenspitzen auf mir, daß ich mich lange Zeit nicht vom Fleck zu rühren vermochte. Von den Autos und Passanten, die sich an diesem Samstag abend achtlos an den Gefängnismauern vorbeibewegt haben werden, sah ich nichts. Über dem ganzen Stadtteil lag, als bestünde sie aus kaltflüssigem, erstickend grauem Blei, eine alles einebnende Stille, und der Name MOABIT lag über den Mauern und Zäunen wie ein alttestamentarischer Fluch.
Der Rolladen, auf den mein Blick jetzt fiel, war etwas ganz Gewöhnliches, etwas, das kaum hätte unauffälliger sein können. Und doch konnte ich kaum glauben, was ich sah. Dort, wo sich die breite Fläche des Rolladens stufenlos in die Mauer einfügte, mußte der Gefängniseingang sein. Doch die Wand aus nahtlos aneinandergefügten Metallrippen war wie eine zynische Leugnung dieser Tatsache: Zu dem dahinterliegenden, namenlosen Bereich der Wachtürme, Gitter und Handschellen gab es keinen Eingang! Überhaupt gab es keine Verbindung zur Außenwelt. Der Bau, in dem Vater, der nie vor eins zu Bett ging, im Dunkeln auf der Pritsche saß, war ein toter Bezirk der zentralen Lichtschalter und klirrenden Schlüssel, eine Welt außerhalb der Welt, zu der niemand Zutritt hatte.
Dann auf einmal kippte mein Blick in die andere Richtung, schuf eine neue Perspektive, und nun bedeutete der vom Rollladen verschluckte Eingang etwas anderes: Die Welt, die gewöhnliche Welt, war auf unbestimmte Zeit verreist und hatte die Verstoßenen dem unbeaufsichtigten Tun derer überlassen, die die Schlüssel besaßen. Der eiserne Vorhang half dem Vergessen, er löschte die Erinnerung an einen Ein- und Ausgang. Ob er jemals wieder hochgezogen würde, lag im ungewissen, und was mit unserem unschuldigen Vater geschah, war nichts, woran jemand auch nur einen einzigen Gedanken verschwendet hätte.
Wie es kam, daß sich mein Blick und der des Aufsehers im Wachturm ineinander verhakten wie die Blicke lebenslanger Feinde, verstehe ich im Rückblick besser als in jener Nacht, wo mir alle Dinge, die äußeren wie die inneren, ganz und gar undurchdringlich erschienen. Als nächtliche Silhouette war der Aufseher ein hagerer Mann mit schmalem Gesicht, dem die Uniformmütze viel zu groß und hoch auf dem Kopf saß. Ab und zu ließ ein schwacher Lichtschein von irgendwoher seine Brillengläser aufblitzen. Dann war es, als sende er einen gnadenlosen, stählernen Blick aus. Er war der einzig sichtbare Mensch, den ich für den Schrecken der finsteren Festung verantwortlich machen konnte. Die Tatsache, daß er nicht viel mehr als eine schwarze Gestalt mit grotesken Umrissen war, machte ihn zur idealen Zielscheibe für meinen Haß und meine Verachtung, wenn ich zur Kabine des Wachturms hinaufblickte. Am Anfang ertrug ich den Anblick des Turms (und das haßerfüllte Echo, das vom Wort Wachturm in mir ausgelöst wurde) nur für wenige Augenblicke. Das mag der Grund gewesen sein, warum ich mich von ihm wegbewegte und die Straße
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