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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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überhaupt nicht angesprochen.
    An meinem ersten Samstagabend im Heim spielte Gygax wie immer seine heimatlich-kitschigen Melodien. Ich habe sofort gehört, daß das Klavier verstimmt war. Das Wort verstimmt kannte ich noch nicht, deshalb sagte ich: ‹Die Töne sind falsch›. Gygax, der mich, den Verstockten, von Anfang an nicht mochte, verstand es als Kritik an seinem Spiel und war zutiefst gekränkt. Nicole, die Betreuerin, versuchte auszugleichen, indem sie mir die richtigen Worte beibrachte: verstimmt und désaccordé . ‹Das Klavier ist verstimmt›, sagte ich nun bei jeder Gelegenheit. Bis ich merkte, daß alle darauf warteten, weil sie wieder diesen Kampf zwischen mir und Gygax sehen wollten. Da sagte ich es aus Trotz nicht mehr. Alle drehten sich zu mir um und warteten. Doch ich schwieg nur und lächelte. Dieses Lächeln - Gygax haßte es aus ganzer Seele. Es sei das arroganteste Kinderlächeln, das er kenne, sagte er vor versammelter Mannschaft.
    Wieder war es Samstagabend. Nicole hatte ihren Cousin Pierre mitgebracht, einen blinden Klavierstimmer. Kaum hatte Gygax ein paar Töne angeschlagen, da rief Pierre aus: ‹Mon Dieu, ist dieses Klavier verstimmt!› Ich kann den Triumph, den ich bei diesen Worten empfand, nicht beschreiben, es gibt dafür keine Worte. Alle drehten sie sich um und sahen mich an. Ich ging nach vorn, stellte mich neben das Klavier und sah Gygax an. Unentwegt sah ich ihm in die Augen, bis er den Raum mit rotem Kopf verließ. Die Geschichte machte im ganzen Heim die Runde. Plötzlich war ich für die anderen jemand. Versteht ihr: Ich war jemand. Über meine Langsamkeit im Unterricht lachten sie mit einemmal nicht mehr. Gygax sah zu Boden, wenn er mir auf der Treppe begegnete. Er schikanierte mich nur noch hinterrücks, nicht mehr vor aller Augen.
    Einige Tage später kam Pierre, um das Klavier zu stimmen. Es war ein sonniger Herbsttag, Bündel von Sonnenstrahlen durchschnitten den Staub. Mich haben sie geblendet, ich mußte ihnen ausweichen. Pierre, auf dessen Gesicht sie einfielen, reagierte überhaupt nicht. Die Strahlen konnten ihm nichts anhaben. Es war, als prallten sie an ihm einfach ab. Da hatte ich plötzlich den Eindruck zu verstehen, was das ist: blind sein. Eingeschlossen sein. Geschützt und eingeschlossen zugleich. Pierre war der erste blinde Mensch, den ich kennenlernte. Ich habe ihn gefragt, wie es vor den Augen sei: ob es ganz dunkel sei. Es war etwas sehr Sanftes in seiner Stimme, wenn er über seine Blindheit zu mir sprach. Er erzählte mir, wie wichtig die Welt der Töne werde, wenn man nichts mehr sehe. Und wie neu diese Welt auf einmal klinge. Übrigens auch, wie das Gesicht zu einem Sinnesorgan werde, wie es auf Wärme und Luftzug reagiere und überhaupt auf die Gegenwart von etwas. ‹Daß da ein Gegenstand ist, das fühlst du mit dem Gesicht›, sagte er.
    Ab und zu, während er sprach, lächelte Pierre. Später habe ich ein Foto aus einer Zeit gesehen, als er das Augenlicht noch besaß. Er hatte ein wunderbar offenes, ausgelassenes Lachen. Laut Sophie, seiner Frau, konnte er damit jede Frau auf der Stelle erobern. Dieses Lachen war verstrickt in das Lachen anderer. Das spätere Lächeln dagegen: Pierre konnte nicht mehr damit rechnen, auf einem anderen Gesicht eine für ihn sichtbare Antwort zu bekommen. Es war ein einsames, nach innen gewandtes Lächeln.
    Pierre drehte mit dem Schlüssel an den Stimmwirbeln, schlug die Akkorde an, korrigierte noch einmal. Dabei schloß er die Augen wie ein Sehender, der sich auf Töne konzentriert. Ich war gefangengenommen von dem Erlebnis, daß er mit dem Ton genau, wirklich ganz genau dann zufrieden war, wenn auch ich es war. Wenn auch ich zur Ruhe kam, was diesen Ton anlangte. Einmal dann, als der Ton richtig war, sagte ich: ‹Jetzt!› Pierre wandte mir leicht den Kopf zu und lächelte dieses sonderbar einsame Lächeln. ‹Stimmt genau›, sagte er, ‹wollen mal sehen, ob du es noch ein zweites Mal triffst.› Ich machte es richtig, wieder war es das Lösen einer Spannung, wenn der Ton endlich saß.
    Es wurde ein Spiel. Oder nein, es war das Ernsteste, was ich in meinem Leben bisher erlebt hatte. Ich zitterte vor Aufregung. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, etwas zu können, wirklich zu können. Eine Fähigkeit zu besitzen, die nicht jeder besaß und mit der man jemanden in Erstaunen versetzen konnte. Und das Verrückte daran: Ich brauchte gar nichts dazu zu tun, ich konnte es einfach, es war in mir drin, ein Teil

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