Der Klavierstimmer
von mir. Diese Leichtigkeit, sie bildete einen wunderbaren Gegensatz zu der Anstrengung, die mich die Worte damals kosteten.
Ich fragte, ob ich auch einmal mit dem Schlüssel an den Stimmwirbeln drehen dürfe. Da nahm er meine Hand in seine und führte sie durch die nötigen Bewegungen. Es war eine unerhört warme, trockene Hand, mir ist, als könne ich sie noch heute spüren. Sehr schlanke, weiße Hände hatte Pierre, sanfte, glatte Haut, fast wie die einer Frau. Ich wünschte, meine Hand für immer in der seinen lassen zu können, das Stimmen sollte nie aufhören. Doch dann ließ er mich los und holte eine Taschenuhr hervor, an der er die Zeit abtastete. Er müsse sich beeilen, sagte er, und deshalb müsse er den Rest selbst machen. Als ob er die Enttäuschung auf meinem Gesicht sehen könne, zog er mich zu sich heran und fuhr mir tröstend übers Haar.
Da roch ich zum erstenmal seinen wunderbaren Geruch. Es muß ein Parfum gewesen sein, das er immer benutzte, oder eine Crème. Nach seinem Tod war ich jahrelang auf der Suche nach diesem Geruch. Dann verlor ich allmählich die Sicherheit zu wissen, was für ein Geruch es gewesen war, ich probierte innerlich mehrere aus und wußte es nicht mehr. Dabei hatte ich das Gefühl, auch Pierre selbst zu verlieren. Wenn ich wolle, sagte Pierre zum Abschied, dürfe ich ihn zu Hause besuchen, da könne er mir über das Stimmen noch mehr erklären.
Es wird euch unglaublich vorkommen, aber es war das erste Mal, daß mich jemand zu sich nach Hause einlud. Vorher war ich stets zu Hause bei der Mutter gewesen und dann nur im Heim. Ich wußte zunächst nichts zu sagen, so daß Pierre mich fragte, ob ich nicht wolle. Erst als ich dann etwas stotterte, merkte er, daß ich aus Überraschung und Freude geschwiegen hatte. Als ich es später Nicole erzählte, lächelte sie und fuhr mir auch übers Haar. ‹Du hast ja ein ganz heißes Gesicht›, sagte sie.
Pierres Wohnung war sehr hell eingerichtet, viel Weiß und nur hie und da ein Farbfleck. Pierre hatte, als sie kurz nach seinem Unfall in diese zweckmäßigere Wohnung zogen, darum gebeten. Außer Sophie, seiner Frau, verstand es niemand. ‹Ich möchte, wenn ich eines Tages die Augen aufschlage und wieder sehen kann, in einen sehr hellen Raum hineinblicken›, sagte Pierre. Dabei wußte er ganz genau, daß er nie wieder etwas sehen würde, niemals wieder. Trotzdem, ohne diese Illusion konnte er einfach nicht leben. ‹Es ist›, sagte mir Sophie einmal, ‹eine bewußt inszenierte Selbsttäuschung, in die er sich einwickelt wie in ein schützendes, schmerzlinderndes Tuch.›
So etwas wie diese Wohnung hatte ich noch nie gesehen, ich betrat eine völlig neue Welt. Gekannt hatte ich bisher nur die Räume auf dem Bauernhof von Odiles Eltern, Butzenscheiben im Wohnzimmer, dann die Zweizimmerwohnung am Bahngeleise, in der ich mit Mutter wohnte, Möbel aus zweiter Hand, billig und zusammengewürfelt, und schließlich die nichtssagenden Einrichtungsgegenstände des Heims, sie waren so nichtssagend, daß ich trotz der vier Jahre, die ich dort verbrachte, nicht mehr sagen könnte, wie sie ausgesehen haben, vor allem nicht die Farben, das ganze Heim scheint mir ganz farblos gewesen zu sein.
In Pierres Wohnung begriff ich zum erstenmal, was das hieß: élégant - ein Wort, das ich wegen seines hellen Klangs und seiner Melodie schon immer sehr gemocht hatte, auch verband ich damit ein Gefühl, eine Erwartung, aber noch nie hatte ich etwas gesehen, was ihr entsprochen hätte. Bis ich Pierres Wohnung betrat. Es war wie eine Erweckung. Alles paßte zusammen. Und es waren überraschend wenig Möbel da, einmal damit Pierre mit möglichst wenigen Hindernissen zu kämpfen hatte, aber auch Sophie gefiel es so. Es war, wie gesagt, eine neue Welt, und diese Welt verband sich von nun an mit allem, was mit Musik zu tun hatte: Musik, das war ein Bestandteil von Pierres Wohnung, etwas Elegantes, jede Melodie war wie eine der eleganten Formen in dieser Wohnung. Im Wohnzimmer, wenn man es so nennen kann, stand ein riesiger Flügel, tiefschwarz und glänzend. Sonst nur noch ein einziger großer Sessel für einen Zuhörer. Und eine Wand ganz voller Bücher, alle über Musik. Etwas so Elegantes, so Vollkommenes hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Und so viel leerer Raum um den Flügel herum. Ein Zimmer nur für diesen Flügel. Der viele Raum, das war der wirkliche Reichtum. Ich war wie betäubt.
Als Pierre mit unglaublich zielsicheren Schritten quer durch
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