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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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den Raum zum Flügel ging, bemerkte ich zum erstenmal, daß er vom Unfall ein bißchen hinkte. Langsam und feierlich, als sei es die Vorbereitung zu einem Gebet, setzte er sich auf der Klavierbank zurecht und rieb die Fingerspitzen aneinander, wie um sich ihrer Empfindlichkeit zu vergewissern. Dann begann er zu spielen. Später, als ich einen Vergleich hatte, habe ich gesehen, daß er nicht besonders gut spielte. Es war zu gefühlsbetont, zu sehr nur Ausdruck seiner Sehnsucht nach Licht und seines Schmerzes wegen der nie endenden Finsternis. Dabei kam ihm der Sinn für die Strenge der Kunstform abhanden. Den Rhythmus dehnte er nach Belieben. Als könne man überall tempo rubato spielen. Es war an der Grenze des Kitschs und manchmal jenseits der Grenze. Auch hatte seine Fingerfertigkeit Grenzen. Er war ein Autodidakt, selbst aus ärmlichen Verhältnissen, nicht zuletzt daher rührte seine Zuneigung zu mir. Aber er liebte das Instrument über alles, es war jetzt, da er nichts mehr sah, seine ganze Welt. Und in dieser Welt war er verbunden mit Sophie, seiner Frau, einer Klavierlehrerin.
    Als ich abends nach dem ersten Besuch ins Heim zurückkam, in den öden Speisesaal und mein schäbiges Zimmer, lag ich die ganze Nacht wach auf dem Bett, nicht einmal ausziehen mochte ich mich. Ich träumte von Pierres weißer, eleganter Welt und spürte den felsenfesten Willen in mir heranwachsen, mir Zutritt zu dieser Welt zu verschaffen, koste es was es wolle.
    Vom nächsten Tag an begann ich wie verrückt für die Schule zu arbeiten, ich mußte die Aufnahmeprüfung für die Sekundarschule um jeden Preis bestehen, wenn ich Klavierbauer werden wollte. Die Lehrer kamen aus dem Staunen nicht heraus, plötzlich war ich nicht mehr bockig, sträubte mich nicht mehr, sondern war willig und zum Fürchten fleißig, wie Nicole einmal sagte. Die Stimmung schlug zu meinen Gunsten um, und auf einmal hatten sie alle den Ehrgeiz, daß ich die Prüfung bestünde. Unser kleiner Steinway nannten sie mich, und der Hausmeister, ob aus Unwissenheit oder Jux, versteifte sich auf unser kleiner Stradivari , wobei er das S wie ein Sch aussprach, was alles noch lächerlicher machte.
    Pierre und Sophie haben mich auf ganz unterschiedliche Weise in die Musik eingeführt. Sophie durch ihre nüchterne, am Handwerklichen orientierte Art. Sie bestand darauf, daß ich die Dinge von Anfang an lernte. Dutzende von Malen habe ich den Spruch gehört, daß man nicht tanzen könne, bevor man gehen gelernt habe. Sophie, das waren die Etüden. Pierre dagegen, das war die Musik. Wie gesagt, er war kein guter Pianist, eigentlich sogar ein ziemlich schlechter. Aber die Art, wie er mit seinen halb geschlossenen blinden Augen dasaß, eingeschlossen ins Dunkel, und einer Melodie lauschte - es hatte etwas unglaublich Eindringliches. Jetzt ging es um die Seele und um nichts sonst. Es hatte etwas von einem Heiligtum. In solchen Momenten habe ich ihn sehr geliebt, so sehr wie niemanden vor oder nach ihm. Und zu dieser Liebe gehörte der Schmerz über seine Dunkelheit und die Dankbarkeit dafür, daß er mir diese neue Welt gezeigt hatte. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen.
    Sophie zeigte mir etwas ganz Neues: Noten. Sie sahen bedeutsam aus wie eine Geheimschrift. Unter der Bettdecke, beim Licht einer Taschenlampe, lernte ich nächtelang alle Notenschlüssel auswendig. Dabei stellte ich mir vor, daß außer Pierre und Sophie nur ich diese Schrift lesen könne.
    Sophie hatte die Angewohnheit, Noten ins Konzert mitzunehmen, Taschenpartituren, dicke dunkelgelbe Heftchen. Eines Tages nahm sie mich in eine Oper mit. Es war Un Ballo in Maschera . Von der Handlung verstand ich so gut wie nichts, die Aufführung war in italienischer Sprache. Aber etwas so Schönes, etwas, das so tief in mich hineinsank, hatte ich vorher noch nie erlebt. Die Bühne, die hinter dem Vorhang in unglaublich kurzer Zeit vollkommen umgebaut werden konnte; das Orchester im Graben; die Bewegungen des Dirigenten; die Kostüme; die Tatsache, daß auch die Dialoge gesungen wurden. Aber was das Unglaublichste war: wenn das Orchester Anlauf nahm und eine musikalische Bühne baute, auf der dann die Arien anhoben. Erst sehr viel später ist mir bewußt geworden, daß ich mit größter Erregung die besondere, erwartungsvolle Stille im Publikum fühlte, wenn wieder ein solcher Anstieg zu einer bekannten Arie kam. Dann der frenetische Beifall, wenn eine dieser Arien zu Ende war. Das hatte ich nicht erwartet und nicht für

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