Der Klavierstimmer
möglich gehalten: daß Menschen so begeistert sein könnten. Mit brennendem Gesicht saß ich dort im Dunkel und fühlte einen Gedanken, den zu denken ich mich noch viele Jahre lang nicht traute: Auch ich würde so etwas komponieren, und am Ende würde auch ich vorn auf der Bühne stehen, mitten im tosenden Beifall von den Rängen. In einem wahren Fieber bin ich aus der Vorstellung hinausgegangen, stumm vor Aufregung, so daß Sophie mich neugierig musterte. Von diesem Fieber habe ich mich nie mehr erholt.
Pierre und Sophie Delacroix adoptierten mich. Ich war elf Jahre alt. Als ich noch im Heim gewohnt hatte und nur zu Besuch bei ihnen war, hatte ich mich stets als das arme Heimkind gefühlt, für das man etwas tat. Am Tag, als ich mit Sack und Pack bei ihnen einzog, wurde das anders. Nun war ich ihr Sohn. Am Anfang war es wunderbar. Ich lernte auf ihrem Flügel Klavier spielen. Mühelos fügte ich mich in das Leben der beiden ein. Oder jedenfalls glaubte ich das; wollte es glauben. Doch bald, nachdem die Neugierde und die Freude am Neuen nachgelassen hatten, gab es die ersten Anzeichen dafür, daß Pierre und Sophie sich nun doch in ihrem aufeinander eingespielten, stillen und wortkargen Leben gestört fühlten. Es kam zu ersten Gereiztheiten, wie es sie vorher nie gegeben hatte. Ich traute mich nur noch an den Flügel, wenn die beiden nicht da waren. Und mit einemmal war es für Sophie schwierig, Konzertkarten zu bekommen. Wer weiß, wie es sich entwickelt hätte, wären die beiden nicht verunglückt.»
Das, Vater, war die Geschichte, wie du sie uns mit geringen Abweichungen sicher ein dutzendmal erzählt hast. Die Geschichte deiner Begegnung mit der Musik. Die Geschichte, die dich schließlich hinter Gitter brachte.
Juliette war da, und wir haben ausprobiert, was ich mir vorgestellt hatte: Ich erlebe, wie ein orchestriertes Werk auf den Klavierauszug schrumpft, und dann versuche ich bei Vaters Musik den umgekehrten Weg. Es ist schwerer, als ich dachte, viel schwerer. Vor allem, weil ich nicht gewohnt bin, die Noten der vielen Instrumente wirklich zu hören. Ganz zu schweigen von ihrem Zusammenklang.
Doch nicht nur deswegen geriet der Abend in Unordnung. Mitten in die Musik hinein klingelte das Telefon. Sie versuche seit Tagen vergeblich, mich zu erreichen, sagte Mercedes. Paco habe ein neu eingeliefertes Kind mit dem Feuerlöscher angegriffen. Der Kopf sei über und über mit Schaum bedeckt gewesen, man habe den Augenarzt einschalten müssen. Noch nie sei er anderen gegenüber gewalttätig geworden; immer nur sich selbst gegenüber.
«Hast du verstanden?»
Ja, sagte ich, ich hätte verstanden. Dann war es in der Leitung lange still.
«Wie heißt das neue Kind?»fragte ich schließlich.
«Undurraga.»
Das war der Name, den sich Paco auf dem Friedhof ausgesucht hatte.
«Warum fragst du?»
«Nur so.»
«Siehst du jetzt, wie recht ich hatte?»
Du hast Pacos mühsam errichteten Wall der Abgrenzung niedergerissen, hieß das, und jetzt überspülen ihn die Wogen seiner Affekte. Du bist schuld.
Ich sagte nichts. Das andere Kind hatte Paco den Namen weggenommen. Damit waren auch unsere Spaziergänge entweiht worden. Dagegen hatte er sich gewehrt.
«Kann ich ihn sprechen?»
«Nein.»Es klang mehr als bestimmt; schneidend.
Ich spürte, wie mir heiß wurde. Ich hielt den Hörer weg vom Ohr und atmete langsam aus.
«Wann kommst du zurück?»fragte Mercedes in das erneute Schweigen hinein.
Ich wisse es nicht, sagte ich.
«Wann wirst du es wissen?»Das Rauschen in der Leitung machte es unmöglich zu erkennen, wieviel Ironie in der Frage lag.
Ich wisse es nicht, sagte ich.
«Er ist ein seelisch gestörtes Kind», sagte Juliette.«Laß dir nicht einreden, daß du daran schuld bist. Und wie kommt diese Mercedes, oder wie sie heißt, überhaupt zu derart selbstgerechten Kommentaren?»
«Ich bin drei Jahre lang mit ihm spazierengegangen», sagte ich.«Wir haben Musik gehört, die genau gleiche Musik zu der genau gleichen Zeit. Es war lächerlich und auch Kitsch, aber ich habe mit Oper begonnen. Das mochte er überhaupt nicht, er nahm einfach den Kopfhörer ab. Dasselbe bei Brahms, Schumann, Mendelssohn. Auch bei Beethoven-Symphonien machte er nicht lange mit. Vielleicht ist es ihm zuviel, wenn mehrere Instrumente im Spiel sind, dachte ich, und legte Klaviersonaten ein. Er behielt den Kopfhörer auf. Natürlich habe ich auch lateinamerikanische Musik probiert, bekam aber ein ziemlich abweisendes Gesicht. Nach
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