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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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der ersten Kassette mit Klaviersonaten von Mozart machte er mit der Hand eine drehende Bewegung: Noch einmal! Es ist bei Mozart geblieben, und manchmal wollte er Bach hören. Mit der Zeit konnte ich sein Mozart-Gesicht von seinem Bach-Gesicht unterscheiden und legte das Richtige ein. So war das, drei Jahre lang, sogar ein bißchen mehr. - Und es war bei mir, daß er die ersten Worte sprach.»
    «Du kannst ihm nicht ein Leben lang ein Vater sein», sagte Juliette.«Oder ein Therapeut. Und du kannst nicht seinetwegen dein Leben in Chile leben.»
    Juliettes Worte taten mir gut, sie rückten die Dinge zurecht. Doch als sie gegangen war, verloren die Worte mit jeder Stunde an Überzeugungskraft. Pacos Zeichnung liegt vor mir. Ich verrate ihn, den Lebenden, um hier viel zu spät der Musik eines Toten zu lauschen.

Patricia
    VIERTES HEFT
    D U BIST EIN SPIELER, Patrice. Nicht beim Roulette oder am Pokertisch. Du spielst mit Menschen. Nicht, um sie auszunutzen, oder weil du keine Achtung vor ihnen hättest. Auch nicht aus Freude an der Macht. Deine Sucht besteht darin, daß du nicht anders kannst, als die Grenzen einer Beziehung auszuloten, indem du sie überschreitest und dadurch eine Katastrophe herbeiführst.
    Das war es, was ich dachte, als ich den Hörer aufgelegt hatte. Was du über dich und Paco erzähltest: Es hatte einen unheilvoll vertrauten Klang. Und die Tatsache, daß du entgegen unserer Abmachung anriefst, um mich um Rat zu fragen, kam mir vor wie eine Episode in der erzählten Geschichte. Ich bin die letzte, die dir in dieser Sache raten kann, und nicht nur, weil ich den Jungen und seine Pflegerin nicht kenne.«Entschuldige, daß ich angerufen habe», sagtest du. «De rien», sagte ich.
    In den Stunden, die auf deinen Anruf folgten, konnte ich nicht schreiben, und auch am nächsten Abend kamen die Worte nicht. Du ließest dir Papas Musik vorspielen, hattest du gesagt. Also habe ich dich doch richtig erraten, dachte ich. Ich dachte es ohne Freude oder Triumph. Denn es war schwierig, mich in der neuen Situation einzurichten. Du hörtest Papas Musik, die ich nie gehört hatte, und du hörtest sie mit jemandem zusammen, der nicht ich war. Außerdem geschah das in unerwarteter Nähe, wenn ich es an der Entfernung zu den Anden maß, an die ich mich im stillen Zwiegespräch mit dir gewöhnt hatte. Es sind noch zwei weitere Tage vergangen, bis ich wieder Worte fand.

    An den Abenden, an denen ich vor dem leeren Heft saß und vergeblich auf Worte wartete, sah ich dich oft vor mir, wie du mir als kleiner Junge alles brachtest, was du geschaffen hattest: jede Zeichnung, jede Lehmfigur, alles. Du überbrachtest es auf eine Weise, die mich schon damals, als ich es noch nicht zu deuten wußte, zutiefst rührte. Verstanden habe ich deinen Wunsch erst im Laufe der Zeit: Du wolltest nicht gelobt werden für dein Werk. Auch wolltest du keinen Dank dafür. Du hast es mir nicht so gewidmet, wie man ein Geschenk macht. Was du wolltest, war, daß ich es zu unserem gemeinsamen Gut erklärte und es auch als das meine anerkannte. Vorher zählte es nichts. Ein fernes Echo dieses Wunsches meinte ich in der Stimme zu entdecken, mit der du mir am Telefon von Paco erzähltest.
    Ich kann den Regen auf deiner Haut spüren, sagtest du eines Tages, während du mit der Hand die Tropfen auf deinem eigenen Arm berührtest.
    Die Körpersprache derer, die du bewundert und geliebt hast, übernahmst du mit atemberaubender Selbstverständlichkeit. Du sahst, wie ein Dirigent vom Podium herabstieg und mit federndem Schritt zur Tür ging, die ihm der Saaldiener aufhielt. Als der Beifall verklang und du aufstandest, gingst du in genau dem gleichen Gang, der deinem eigenen fremd war, hinaus ins Foyer. Du warst so vertieft darin, dich im Gang des anderen zu verlieren, daß du gar nicht bemerktest, wie du mir davonliefst. Einmal sahen wir in einem Café einen Mann, dessen Hand beim Erklären von etwas explodierte, als müßten die Finger sternförmig und weit in den Raum hinausfliegen. Am nächsten Tag machtest du beim Erklären die gleiche Bewegung. Ob es um den sprachlichen Stil von jemandem ging, um die Gestik, die Mimik, seine Körperhaltung, sein Lachen: Mühelos machtest du alles nach. Heute denke ich: Dieses virtuose Einfühlungsvermögen, es ist auch eine Sucht: die Sucht, nicht du selbst werden zu wollen.
    Gleichklang - das war das Zauberwort, mit dem du unser unsichtbares Gefängnis gebaut hast. Wieder einmal warst du treffsicher in der Wahl des

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