Der Klavierstimmer
sein Arm auch jetzt um mich legen würde. Als ich mich nach ihm umdrehte, stand er still da, abwesend und unberührbar, die Augen unverwandt auf die Türme von Jetons gerichtet, die der Croupier mit ausdruckslosem Gesicht in meine Richtung schob. 36 000 Francs! Die Sekunden verrannen, und er stand immer noch bewegungslos neben mir. Ich wagte nicht, ihn anzusprechen; es war, dachte ich später, eine Scheu wie diejenige, die man einem Schlafwandler gegenüber empfindet.
Faites vos jeux! Die Stimme des Croupiers war so ausdruckslos wie sein Gesicht. Jetzt sah ich den Schweiß auf Antonios Stirn. Mechanisch holte er ein Taschentuch hervor und wischte ihn ab. Es war, als sei ich für ihn nicht mehr vorhanden. Als er die Arme nach den Jetons ausstreckte, trat ich unwillkürlich zur Seite; wenn es bisher auch ein bißchen mein Geld gewesen war - jetzt war es nur noch seines. Langsam, aber ohne Zögern schob er die gesamten Jetons auf ein einziges Feld und achtete darauf, daß sie keine Linie berührten. Nur wenig andere Spieler setzten; die meisten blickten gebannt auf den hohen Einsatz und auf ihn, der ganz dicht am Roulettetisch stand, die Hände in den Hosentaschen, unmerklich wippend und mit halb geschlossenen Augen. Ferner als in jenem Augenblick hätte er mir nicht sein können.
Rien ne va plus! Die Kugel rollte. Als sie langsamer wurde und sich gegen die Mitte hin zu bewegen begann, hörte er mit dem Wippen auf. Auf das gleichmäßige Schleifen und Sirren der Kugel folgte das unregelmäßige Poltern, wenn sie mit dem gegenläufigen Zahlenrad in Berührung geriet und kurz in Zahlenkästchen hineinsprang, um sofort wieder wegzuspritzen. Erst nachher bemerkte ich, daß sich meine Finger die ganze Zeit über in der Handtasche festgekrallt hatten. Das Poltern der Kugel wurde langsamer und sanfter. Zum Stillstand kam sie auf der 18. Seine Jetons lagen auf der 17. Von den Zuschauern war Seufzen und Ausatmen zu hören. Der Croupier warf ihm einen kurzen Blick zu; um seine Mundwinkel zuckte es, als er die Jetons zu sich zog.
Erst jetzt wagte ich, ihn anzublicken. Er hatte die Augen geschlossen und atmete langsam und tief. Die Lippen zitterten leicht, man mußte neben ihm stehen, um es erkennen zu können. Dann entspannten sich seine Züge, die Lippen kamen zur Ruhe, und er schlug die Augen auf wie nach einer langen Ohnmacht - unsicher, zögernd und mit Verwunderung im Blick. Einen Moment lang sah er mich an, als müsse er sich darauf besinnen, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Faites vos jeux!, rief der Croupier. Jetzt bildete sich auf seinem Gesicht das Lächeln, das mich schon bei der ersten Begegnung verzaubert hatte. Es kam mir vor, als hätte sich sein Gesicht über einem Abgrund geschlossen. ‹Amusant, n’est-ce pas?› sagte er und zog mich mit sich fort.»
Kein einziges Mal hatte Maman seinen Namen erwähnt. Er - das war genug. Sie hatte sich hinter ihren zuckenden Lidern in eine innere Arena zurückgezogen, in der sie mit ihm allein war. Ich stand am Rande dieser Arena und hielt den Atem an. Meine Gedanken schienen ihren Gedanken so nahe zu kommen, daß sie sie fast berührten.
Jetzt geschah etwas mit ihr, im Rückblick kommt es mir wie ein kurzer Erdrutsch in ihrem Inneren vor. Sie hielt das Glas und den Stock umklammert und kauerte sich seitlich auf dem Stuhl zusammen, ähnlich wie sie es in Papas Sessel getan hatte. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme weinerlich und wütend, beides in rascher Folge hintereinander und manchmal auch gleichzeitig.
«Während der Rückfahrt verlorst du kein Wort über das Roulette, sondern plaudertest über dieses und jenes. Es war dir peinlich, daß ich dich bei deiner Sucht hatte beobachten können, das konnte ich hinter jedem deiner Scherze spüren. Ich stellte mir vor, wie es im Casino weitergegangen wäre, hätte ich nicht dabeigestanden. Dabei betrachtete ich deine Hände mit den berühmten Ringen. - Ich kann sie noch heute auf mir spüren. - Bis zu jenem Abend hatten sie aus herrlich kühlem Gold bestanden. Jetzt bestanden sie einfach aus kaltem Metall. »
Der Erdrutsch war vorbei, und Maman fand zurück zur inneren Distanz des Erzählens. Bei dem, was nun kam, war ich oft versucht aufzustehen und sie zu umarmen. Ich blieb sitzen. Sie sprach in meiner Gegenwart, ja. Aber anders als am Anfang war ich nicht mehr sicher, ob sie wirklich zu mir sprach. Vielleicht war es nur Zufall, daß sich ihre Erinnerungen, ihre Wut und ihr Schmerz vor mir entluden.
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