Der Klavierstimmer
Gefühle Zeit gehabt haben, klare Konturen anzunehmen, spüre ich, daß mich die Lösung, die Maman für sich fand (die Lösung, die von ihr Besitz ergriff), mit Stolz erfüllt. Irgendwann in jener Nacht ging sie in den Keller, um ihren Stock zu zersägen. Als ich die vielen kleinen Stücke sah, die über den ganzen Raum verteilt lagen, meinte ich die Gewalt der Gefühle, die sich dabei entladen hatten, in meinem eigenen Körper zu spüren. Die Säge in der Hand, hatte sie abgerechnet, mit den anderen und sich selbst. Den Rest des Weges wollte sie ohne Krücke gehen, wie groß die Schmerzen auch sein mochten. Von nun an wollte sie ganz allein für sich einstehen. Sogar mit GP hat sie abgerechnet. Den silbernen Knauf des Stocks fand ich im entferntesten Winkel des Raums. Er hatte Dellen vom Aufprall an der Wand, und Mamans Initialen, die GP hatte eingravieren lassen, waren verformt.
Wäre dir diese Befreiung nur schon früher gelungen, Maman! Es wäre leichter gewesen, dich zu lieben.
Patrice
FÜNFTES HEFT
ICH BIN VOM GEFÄNGNIS in Moabit nicht auf direktem Wege nach Hause gefahren. Als ich meinen Blick von der dunklen Gestalt im Wachturm schließlich löste, hielt wenige Meter von mir entfernt ein Taxi. Das Lachen der aussteigenden Leute holte mich in die Wirklichkeit einer gewöhnlichen Berliner Straße zurück. Ich stieg ein. Der Fahrer wartete.«Plötzensee», hörte ich mich sagen,«zum Frauengefängnis.»Der Fahrer drehte sich um und sah mich an. In meinem Blick muß noch der Nachhall meines haßerfüllten Starrens von vorher gelegen haben. Das hielt ihn davon ab zu sagen, was er hatte sagen wollen. Er fuhr los.
Ich hatte nicht gewußt, daß ich es tun würde. Maman muß die ganze Zeit in meinen Gedanken gewesen sein, ohne daß ich es merkte. Stell dir vor: von einem Gefängnis zum anderen fahren mit der Frage im Sinn, welches von zwei unerträglichen Dingen leichter zu ertragen wäre: der eigene Vater oder die eigene Mutter hinter Gittern! Ich sah Maman vor mir, wie sie über die Risse in den Opernkarten strich und dabei schniefte. (Der Anfang und das Ende eines zerbrochenen Lebens in einem einzigen Moment vereint.) Sie würden sie nicht holen kommen. - Vater kam nur heraus, wenn sie sie holen kamen. - Vater würde von sich aus nie ein Wort zurücknehmen, nie. - Sie durften sie nicht holen kommen. - Vater konnte nicht für den Rest seines Lebens in der dunklen Festung bleiben, wo sie einem nach Belieben das Licht abdrehen. Nach der Verurteilung würde er Gefängniskleidung tragen müssen, den braunen Anzug aus der Junggesellenzeit, um den er gebeten hatte, würden sie uns mitgeben, damit wir ihn zu Hause wieder in den Schrank hängten, für immer. - Auch Maman würde Gefängniskleidung tragen müssen.
«Ich möchte …», sagte ich. Der Fahrer trat auf die Bremse.
«Nichts», sagte ich.
‹Lassen Sie doch diesen Quatsch›, hörte ich Vater sagen, ‹meine Frau hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, noch nicht einmal gesehen hat sie eine, ich dagegen war der beste Schütze in der Kompanie, Hugentobler nämlich hat beschissen, das wußte jeder.›
‹Aber hier ist ihr Geständnis›, sagten sie.
‹Sie muß den Verstand verloren haben›, sagte Vater, ‹der Wisch ist keinen Pfifferling wert, bringen Sie mich zurück in die Zelle.›
Er würde kein Wort zurücknehmen, nie. - Sie würden Maman nicht holen kommen. - Hast du von ihren Schießübungen gewußt?, fragte ich Vater in Gedanken. Ich kann nicht zulassen, daß sie dich für einen Mord verurteilen, den du nicht begangen hast. Und genausowenig kann ich zulassen, daß sie kommen, um Maman zu holen. Sag mir, was ich tun soll, sagte ich zu ihm.
Dabei hat Vater von Ratschlägen nichts gehalten. Jeder muß selber wissen, was er tut, und dann hat er dafür geradezustehen. Wenn du nur nicht immer so senkrecht gewesen wärest, Vater, so unbeugsam tapfer. Es hat dich unzugänglich gemacht und schrecklich hart.
«Hier ist es», sagte der Fahrer,«soll ich warten?»
Ich wollte seinen Blick nicht auf mir spüren, wenn ich vor dieses zweite Gefängnis trat, und schickte ihn weg. Bevor er losfuhr, kurbelte er das Fenster herunter und fragte:
«Sind Sie ganz sicher?»
Ich nickte stumm. Ich werde den Tonfall seiner Frage nicht vergessen, vor allem nicht den Klang des«janz». Es lag eine Sanftheit und väterliche Fürsorge darin, die ich dem graubärtigen, groben Gesicht nicht zugetraut hätte.
Ich weiß nicht, wie lange ich vor den Gefängnismauern
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