Der Klavierstimmer
hören.
«Er war im Schweizerhof abgestiegen», begann sie und machte eine Pause. Das eingefallene Gesicht schien jünger und lebendiger zu werden.«Er steigt immer im Schweizerhof ab. Dort hat er bei seinem ersten Engagement gewohnt, und seither schwärmt er davon. Von dort ist es nicht weit zum Casino, wo er einen Liederabend gab.»Jetzt wich das Leben wieder aus dem Gesicht.«Ich wollte ihn sehen. Nicht treffen wollte ich ihn, nur sehen; aus einer gewissen Distanz heraus betrachten. Und nicht im Rampenlicht wollte ich ihn sehen, sondern im nüchternen Tageslicht und in gewöhnlicher Kleidung. Ich wollte mich vergewissern, daß es ihn noch gab, als wirklichen Menschen und nicht nur als Hochglanzprodukt der Illustrierten.»
Wer nicht bei Maman aufgewachsen ist, den müßte es verblüfft haben, daß sie auf diese Weise, ganz ohne Einleitung und Namensnennung, über jemanden zu sprechen begann. Doch wir kannten das: Sie tat oft so, als müßten die anderen über ihre Gedankenwelt jederzeit auf dem laufenden sein. Es war nicht Anmaßung. Es war, als sei ihr nicht klar, daß die anderen nicht Bewohner ihrer Gedankenwelt waren. Daß man in der Welt der eigenen Vorstellungen allein ist und es einen ziemlichen Umstand bedeutet, den anderen Zugang zu verschaffen.
Während sie sprach, dachte ich daran, wie sie am Tag zuvor gesagt hatte, Antonio werde die Titelrolle in Papas Oper singen. Es konnte nur der Italiener sein, von dem sie jetzt sprach. Aber noch war ich nicht bereit, es zu glauben. Vor allem wegen der unwirklichen Gegenwartsform, mit der sie seinen Tod verleugnete.
Auch die restliche Asche der Zigarette fiel zu Boden. Maman hatte keinen einzigen Zug genommen. Sie schien Schmerzen zu haben und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. Für einen Moment sah es aus, als wolle sie sich setzen. Doch dann hielt sie inne, als habe sie diese Absicht schon wieder vergessen, und sprach im Stehen weiter.
«Ich traute mich nicht, im Hotel anzurufen und nach der Dauer seines Aufenthalts zu fragen.»Ärgerlich zog sie die Brauen zusammen.«Wieso eigentlich? Immerhin ist er … aber egal, ich fuhr am Tag nach dem Konzert aufs Geratewohl hin. In Bern regnete und stürmte es. Ich erinnere mich an die Geräusche von Regen und Wind, als ich nachher im Krankenwagen lag. Ich postierte mich hinter einer Säule der Arkaden in der Nähe des Hoteleingangs und wartete. Stunden vergingen.»
Jetzt setzte sich Maman und bat um ein Glas Wasser. Sie trank und blieb dann mit geschlossenen Augen sitzen. Sie wirkte erschöpft und uralt. Ich setzte mich genauso hin wie vorher, damit alles gleich aussähe, wenn sie die Augen aufschlüge. Noch nie hatte ich mit solcher Spannung darauf gewartet, daß jemand in einer Erzählung fortfuhr. Von dem, was jetzt kam, schien mir alles abzuhängen. Ich hätte es nicht erklären können, aber sogar das, was mit Papa im Gefängnis geschah, schien davon abzuhängen. Eine Frage, das spürte ich, hätte alles zerstören können. Ich wartete. Die Pendule tickte lauter als sonst. Es war das erste Mal, daß Maman so zu mir sprach und mich zu ihrer Vertrauten machte. Es würde meine Gefühle ihr gegenüber für immer verändern. Auf einmal kam mir mein alter Groll unsinnig vor. Die erschöpfte, von Schmerzen und Morphium gezeichnete Frau, die wie eine Schiffbrüchige vor mir saß, war meine Mutter. Nichts war in diesem Moment wichtiger als das, was mir ihre Erzählung enthüllen würde.
«Er trat aus dem Hotel, neben ihm eine üppige Schönheit mit südländischen Gesichtszügen. Une putain. Ich erkannte ihn nicht sofort, denn er trug einen Hut. Das hatte er früher nie getan. Es sah idiotisch aus. Ich hatte angenommen, er ginge in Richtung Spitalgasse. Er schlug jedoch die andere Richtung ein und kam auf mich zu, den Kopf der Frau zugewandt, die ihn zum Schaufenster einer Bijouterie zog. Ich war wie gelähmt, als die beiden wenige Schritte von mir entfernt stehenblieben und die Auslage betrachteten. Ich zitterte bei dem Gedanken, gesehen zu werden, und doch wollte ich es auch. Während die Frau mit dem Blick weiterhin am Schmuck hing, drehte er sich um und blickte durch den Arkadenbogen zu den dunklen Wolken hinauf. Als er sich wieder der Frau zuwandte, streifte er mich mit einem flüchtigen Blick, ohne mich zu erkennen.»
Das Geräusch von zerspringendem Glas zerschnitt die Stille, die eingetreten war. Maman hatte das Glas zerdrückt und sich dabei geschnitten. Von ihrem Handballen tropfte Blut auf den
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