Der Klavierstimmer
ohnehin nicht ernst zu nehmen. Meine Pariser Jahre haben in den letzten Tagen den Geschmack des Vorläufigen bekommen, sie muten mich an, als hätte ich sie auf Abruf und mit angehaltenem Atem gelebt, auf den Augenblick wartend, wo ich richtig würde beginnen können. Sind es die Hefte, die das bewirkt haben? Hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit solche Macht über die Gegenwart?
Mamans verbesserte Übersetzung von Elena Aslanischwilis Manuskript beginnt mich jetzt auch vom Thema her zu fesseln. Ich hatte keine Ahnung, wie reich und verwickelt die Welt des Balletts ist. Das längste Kapitel ist der frühen, romantischen Periode zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewidmet, die von den großen Ballerinen bestimmt wurde. Elena liebte diese legendären Figuren, ihren Glanz, ihre Eitelkeiten und Rivalitäten. Eine der größten war Marie Taglioni, eine bleiche, ätherische Frau, welche schon von der Erscheinung her die unwirkliche Atmosphäre der romantischen Rollen perfekt zu verkörpern verstand. Ihr Vater Filippo, ein berühmter Choreograph, der nur für die Idee lebte, Marie zur größten Tänzerin Europas zu machen, schuf für sie das Ballett La Sylphide , das ihren Ruhm begründete. Elena hat über die Beziehung zwischen Filippo und Marie so viel zusammengetragen, daß man gern etwas über Elenas Vater wüßte. Ich suchte in den Kisten, und dabei stieß ich auf einige Seiten in Mamans Handschrift, die zwar an eine kurze Passage in Elenas Manuskript anknüpfen, aber keine Übersetzung darstellen.
Was Maman beschreibt, ist der tragische Tod von Emma Livry, der Lieblingsschülerin von Marie Taglioni, die in ihr eine neue Fee sah. Emma Livry muß mit zwanzig auf offener Bühne verbrannt sein, als ihr Ballettröckchen an den Gaslichtern der Rampe Feuer fing. Ganz anders als bei Elena fehlen bei Maman die Belege. Und nach dem dritten Lesen bin ich überzeugt: Sie hat, ausgehend von den bei Elena genannten Tatsachen, eine Phantasieerzählung geschrieben. Es sind nur wenige Seiten, aber sie fangen ein, was die Erlebniswelt der jungen Chantal de Perrin gewesen sein muß: Angst und Anspannung, Hitze und Staub auf der Bühne, und immer wieder: der Blick in das Dunkel des Zuschauerraums, aus dem ihr erwartungsvolles Schweigen entgegenkommt. Emma Livry, schreibt Maman, tanzte diesem Schweigen entgegen, immer weiter, bis zur Rampe. Und dann geschah es. Es ist ein kleines Melodrama, rührend und pathetisch, wie Maman es manchmal war. Ganz gleich, was ich sonst mit den vielen Sachen machen werde: Diese Seiten werde ich aufbewahren.
Wieviel prosaischer war ihr eigener Unfall! Auch wenn ich jetzt, wo ich die wahre Geschichte darüber kenne, hinzufügen muß: ein inneres Drama war es auch. Mehr als zwanzig Jahre lang haben wir geglaubt, Maman sei in Bern in das Taxi hineingelaufen, weil sie Natalie Lefèvre im Bahnhof verschwinden sah und sie einholen wollte. Als wir irgendwann von Natalie erfuhren, daß sie damals gar nicht am Bahnhof war, hieß es einfach: Ich habe es aber geglaubt. Es war ohnehin ein nur schemenhaftes Ereignis, wir waren ja, als es geschah, erst drei. Was zählte, war der Eindruck von Maman, wie sie mit eingegipster Hüfte und halb schwebend im Spitalbett lag. Einen Grund, die Geschichte über den Hergang anzuzweifeln, hatten wir nie. Und so war am Freitag abend vor deiner Ankunft eine Art innere Umschichtung nötig, bevor ich begriff, daß ich nun eine andere, die wahre Geschichte über jene Begebenheit zu hören bekam.
Ich saß in der Küche, als Maman aus dem Boudoir kam. Mit der einen Hand stützte sie sich auf den Stock, in der anderen hielt sie eine Zigarette. An Daumen und Zeigefinger war etwas von der blaßblauen Tinte, mit der sie zu schreiben pflegte. Als sie mich sah, kam sie mit langsamen Schritten herein. Ihre Bewegungen hatten etwas Schläfriges wie bei jemandem, der mit seinen Gedanken woanders ist. Hinter einem Stuhl blieb sie stehen. Ihr Gesicht war fahlgelb im Licht der Lampe, winzige Schweißperlen bedeckten die Stirn. Mich sah sie nicht an, und auch sonst schien ihr Blick kein Ziel zu haben. Ich spürte, daß sie etwas Wichtiges sagen wollte und daß ihr das nur gelingen würde, wenn sie in dem inneren Gleichgewicht, das sie drüben beim Schreiben gefunden hatte, nicht gestört wurde. Behutsam legte ich Messer und Gabel beiseite. Die lange Asche der Zigarette fiel zu Boden, ohne daß Maman es merkte. Es war still in der Küche. Nur das Ticken der Pendule aus dem Entrée war zu
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