Der Klavierstimmer
mich zurückhielt, oder die Gewißheit, daß es ohnehin nichts nützen würde - ich weiß es nicht. Ich mußte es jemandem erzählen, und so sagte ich es schließlich Papa. Als ich am nächsten Morgen nach einer weiteren schlaflosen Nacht herunterkam, hatte er bereits eine Liste von Adressen für eine Abtreibung, alle im Ausland.»
Ein Lächeln, das mehr wie die bloße Erinnerung an ein Lächeln war, glitt über Mamans eingefallenes, erschlafftes Gesicht.
«Es war eine Woche später, daß Frédéric kam, um den Flügel zu stimmen. Er weiß viel mehr darüber zu sagen als ich. Ich war ganz eingesponnen in meine verworrenen Empfindungen. Immer wieder legte ich in jenen Tagen die Platte mit Tosca auf. Dutzende von Malen hintereinander hörte ich mir Recondita armonia di bellezze diverse! an und wartete stets von neuem auf Cavaradossis Beteuerung Il mio sol pensier sei tu! Er hat sie im Hotelzimmer für mich gesungen, diese Worte. Ganz allein für mich. Und dann zauberte er zwei Karten für die Mailänder Premiere hervor, buchstäblich aus dem Ärmel. ‹Für dich und deinen Vater›, sagte er lächelnd, ‹vielleicht hat er danach weniger gegen mich.›
Daß Frédéric seine Stimme sofort erkannte, machte ihn mit einem Schlag zu meinem Vertrauten, obgleich wir voneinander nichts wußten und ich nicht im Traum daran dachte, ihn jemals einzuweihen. Als er dann noch den Ausspruch über die Musik, die einen auf die Stille vorbereitet, zitierte, war ich ganz sicher, daß ich ihn nicht gehen lassen wollte. Ich brauchte ihn als Gefährten, der mir half, meine verletzte Liebe zu ertragen - als jemanden, bei dem ich diese Gefühle unerkannt abladen konnte und der sie aufbewahren würde, so daß sie nicht verlorengingen, wenn mich die anderen Empfindungen der Wut und der Demütigung überspülten. Beides nebeneinander auszuhalten - das war zuviel, und so brauchte ich jemanden, der an der Last meines Zwiespalts mittrug, ohne es zu wissen und ohne sich einzumischen.
Frédéric, er kam mir so stark vor, so fest (sie gebrauchte das Wort solide ) und verläßlich mit seinen großen, eckigen Händen - wie jemand, der dafür geschaffen war, mir einen Teil meiner Last abzunehmen. Während er seine Akkorde anschlug und mit dem Stimmschlüssel an den Wirbeln drehte, den Kopf leicht geneigt als Zeichen der Konzentration, betrachtete ich seine Hände und verglich sie mit den feingliedrigen, eleganten Händen, welche die Türme von Jetons zur Mitte des Spieltischs hin geschoben hatten. Ich war froh, daß dieser Mann hier keine eleganten Hände mit Siegelringen hatte, sondern grobe Hände, die nur so lange plump wirkten, als man sie nicht arbeiten sah. Er blickte auffallend oft hoch zum aufgestellten Flügeldeckel. Erst als er gegangen war und ich mich auf die Klavierbank setzte, verstand ich warum: Es war ein Spiegel. Es machte großen Eindruck auf mich und gefiel mir sehr, wie Frédéric seiner Bewunderung wortlosen Ausdruck verliehen hatte, indem er immer wieder in den Spiegel aus schwarzem Lack hochblickte. Der eine würde stets zu großen Worten greifen, gewissermaßen stets Arien singen, wenn es darum ging, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen; der andere würde ohne Worte hochblicken.
Frédéric, er sollte mein Gefährte sein, der mir helfen würde, die Reise nach Mailand heil zu überstehen. Am Morgen dieses Tages hatte ich die beiden Karten endlich in den Papierkorb geworfen. Zerrissen jedoch hatte ich sie entgegen meiner Gewohnheit nicht. Der Wunsch war noch nicht wirklich besiegt, und nun stand auf einmal dieser bescheidene, bäurisch wirkende Mann vor mir, der in stiller Begeisterung von Opern gesprochen hatte, während er mit dem Stimmen beschäftigt war. ‹Ich …ja …natürlich möchte ich das›, stotterte er. Auf dem Weg hinaus verfing er sich mit seiner Werkzeugtasche in der Tür. So sehr hatte ihn mein Angebot aus der Fassung gebracht.»
Als ich am Samstag gegen Mittag herunterkam, war Maman bereits fertig angezogen, um dich zu empfangen. Wie muß es in ihr ausgesehen haben, während sie ruhelos von Raum zu Raum ging! Sechs Jahre lang hatte sie dir Brief um Brief geschickt, ohne eine Antwort zu bekommen, so daß sie sich die Antworten schließlich selbst ausdachte. Nun würdest du, die wirkliche Person, zur Tür hereinkommen, weil Papa in einer Zelle saß. Und sie würde, das wußte sie, nicht mehr lange schweigen können. Soviel auf einmal ist zuviel für einen Menschen.
Erst jetzt, da alles vorbei ist und die
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