Der Klavierstimmer
(Statt vor dir, ging es mir durch den Kopf.)
«An jenem Abend ging ich nicht mit ins Hotel. Bei den Proben der nächsten Tage verausgabte er sich, als sei bereits Premiere. Er war phantastisch. Nachher suchte er mich in der Garderobe und wollte gelobt werden. Er wollte Evian vergessen machen. Es gelang ihm, weil auch ich es vergessen wollte. Die Premiere endete mit einundzwanzig Vorhängen und tosendem Beifall für ihn, den Star. So habe man den Maskenball in Genf noch nie gehört, schrieben die Zeitungen. Ich war starr vor Eifersucht, als er Amelia vor aller Welt umarmte und ihr einen spielerischen Kuß auf die Lippen drückte. Nach der Premierenfeier gingen wir ins Hotel, wo er mich wegen meiner Eifersucht auslachte.»
Maman stellte das Glas auf den Tisch und wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Für einen Augenblick erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie öffnete die Augen. Ihr Blick war auf mich gerichtet, aber er kam nicht an. Er galt der erinnerten Szene, nicht mir.
«Es wurden Wochen des Rausches. Papa, der sich geweigert hatte, in eine Aufführung zu gehen, wurde mürrisch und begann zu trinken. Der September ging zu Ende. Für die Hälfte der Woche flog er jeweils nach Mailand, um Tosca vorzubereiten. Tosca war seine erste Platte gewesen, und sie hatte ihm dieses Engagement eingebracht. Es war sein Début an der Scala, und er war in Gedanken mehr dort als in Genf. In den beiden letzten Aufführungen von Verdi war seine Stimme matt und flach, er war nicht mehr bei der Sache. Im Grunde genommen war er auch längst nicht mehr bei mir. Wenn ich ihn nötigte, über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, klangen seine Worte wie mühsame Lippenbekenntnisse. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.»
Mamans Gesicht schien zu gefrieren; die Stirn, die Nase und die geschlossenen Augen sahen jetzt aus, als seien sie aus hartem, grauem Stein.
«Am Morgen deiner endgültigen Abreise nach Mailand versetztest du mich; du warst schon weg, als ich das Hotel betrat. An der Réception wurde mir ein Bogen Hotelpapier ausgehändigt, auf dem einige flüchtig hingeworfene Worte standen. Jahrelang sind diese Worte in meinem Kopf gekreist wie eine klebrige Melodie, die man nicht los wird: Adieu. Es war schön. Sei nicht traurig, daß es vorbei ist. Das Leben geht weiter. Die Buchstaben der Unterschrift waren dreimal so hoch wie der Rest. Noch heute weiß ich nicht, was mich wütender gemacht hat: daß es abgegriffene Worte wie aus einer Seifenoper waren, oder daß du mit deinem vollen Namen unterschrieben hattest.»
Das Telefon klingelte. Das würde Dupré oder Rubin sein. Ich machte die Küchentür zu. Sie mußten warten. Was ich im Laufe der letzten Stunde erfahren hatte, veränderte alles. Das war es, was ich dachte: Es verändert alles. Ohne eigentlich zu wissen, was das hieß. Ich habe nicht klar gedacht, die ganze Zeit über nicht. Nur dieses diffuse Gefühl hatte ich: daß die Dinge ganz anders waren, als ich bisher geglaubt hatte. Das schloß - irgendwie - auch unsere Vergangenheit ein, spürte ich. Und natürlich hatte ich die Frage auf den Lippen, ob Papa von alledem wußte. Ob er wußte, daß die Stimme, die er bei seinen Tenorrollen stets im Ohr gehabt hatte, Mamans früherem Liebhaber gehört hatte. Ob er wußte, wen er da erschossen hatte.
«Er ist ein Spieler und ein Feigling», fuhr Maman jetzt fort.«Das sagte ich mir Stunde für Stunde, Tag für Tag. Es nützte nichts. Papa triumphierte insgeheim, und das machte es noch schlimmer. Zehn Tage später erfuhr ich, daß ich schwanger war. Es folgten Tage, in denen in meinen Gefühlen soviel Verwirrung herrschte wie nie zuvor. Ich hatte werden wollen wie Désirée Aslanischwili, die göttliche Désirée. Ich hatte mit dem Tanzen spät angefangen, später als andere Kinder, weil Maman zwar wollte, daß ich zum Ballett ging, aber auch Angst davor hatte, mich zu vergewaltigen. ‹Es gibt da furchtbare Beispiele›, sagte sie.»(Heute weiß ich: Eines dieser Beispiele, das Clara aus Elenas Text kannte, war Marie Taglioni.)«Trotzdem: Ich war gut, in der Genfer Truppe galt ich als die Nummer eins, und in jenem Herbst hätte ich für eine Saison nach Paris gehen können. Sollte ich das eines Kindes wegen aufgeben, dessen Vater mich auf diese schnoddrige und auch lächerliche Weise hatte sitzenlassen?
Mehrmals stand ich am Flughafen und am Bahnhof, entschlossen, nach Mailand zu fahren. Ob es Selbstachtung war, die
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