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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Es sollte nichts da sein, hinter dem er sich verschanzen konnte. Mit diplomatischem Geschick hatte der Empfangschef am Nachmittag vermieden, mir die Zimmernummer zu nennen. Doch es war leicht: Der Schlüssel, den sie ihm gaben, hatte ganz außen, in der linken oberen Ecke gehangen. Ich fuhr in die Etage, auf der die Suiten liegen.»
    Maman machte eine Pause und nahm eine Zigarette. Den letzten Satz hatte sie in zögerndem, beinahe ängstlichem Ton gesagt, es lag darin ein Nachhall der Beklommenheit, mit der sie nun doch hatte kämpfen müssen, als sie damals den Flur zu seinem Zimmer entlangging.
    «Was ich tat, als ich vor seiner Tür stand, habe ich nicht vorhergesehen; es hat mich vollständig überrascht. Als erstes spürte ich, daß es mir zuwider war, seine Tür mit bloßen Händen zu berühren; es würde sein, als berührte ich seinen fett gewordenen Körper. Ich hob den Stock, bis die Spitze auf der Höhe seines Kopfes war, den ich mir hinter der Tür vorstellte.»Mamans Atem ging schneller.«In diesem Augenblick trat eine Gruppe von Leuten aus dem Aufzug und kam auf mich zu. Erschrocken senkte ich den Stock. Erst später, als ich das Hotel längst verlassen hatte, wurde mir klar, daß ich weniger über die Leute erschrocken war als über die Grausamkeit, die in meiner Geste gelegen hatte. Als die Leute außer Sichtweite waren, trat ich näher an die Tür und klopfte mit dem Griff des Stocks dreimal an das Holz, es gab einen schroffen, herrischen Klang. Antonios Gesicht war wütend, als er die Tür aufriß, um dem Urheber des unverschämten Klopfens die Meinung zu sagen. Noch ehe er recht begriffen hatte, was geschah, war ich schon im Zimmer. Wie vom Donner gerührt stand er da, die Hand auf der Klinke der offenen Tür.
    ‹Chantal … wie …›, stotterte er.
    ‹Schließ die Tür!› sagte ich und hoffte, es würde wie ein schneidender Befehl klingen. Unschlüssig und mit einem Ausdruck, als kenne er sich nicht nur in der Situation, sondern auch in sich selbst nicht aus, bewegte er die Tür hin und her.
    ‹Die Tür!› sagte ich noch einmal, und nun schloß er sie. Dann drehte er sich zu mir um, und jetzt gab ihm der Ärger über meinen Befehlston die gewohnte Selbstsicherheit zurück.
    ‹Was bildest du dir …›
    ‹Du bist mir etwas schuldig›, hörte ich mich sagen. So war es während dieser ganzen schrecklichen Begegnung: Ich hörte mich mit kalter, harter Stimme Dinge sagen, die ganz woanders herzukommen schienen, nur nicht aus mir. Oder vielleicht sollte ich sagen: die ich mir nicht zugetraut hätte. Die Fremdheit meiner Worte, sie war entsetzlich, und je größer das Entsetzen wurde, desto mehr verbiß ich mich in meinen herrischen Ton.
    ‹Ich verstehe nicht, wovon du sprichst›, sagte Antonio, der sich ganz gefangen hatte und nun lässig auf der Lehne eines Sessels saß, die Hände in den Taschen eines Morgenmantels. Es war warm im Raum, die Hitze stieg mir ins Gesicht, und ich begann, den Mantel auszuziehen. Für einen Augenblick, der mir vorkam wie aus der Zeit herausgeschnitten, trat an die Stelle der Gegenwart die Erinnerung an die vielen Gelegenheiten, bei denen mir Antonio aus dem Mantel geholfen hatte. Nie versäumte er, mir nachher das Haar im Nacken zu ordnen. Diese Geste, die stets etwas von der Langsamkeit und Sanftheit einer Zeitlupe hatte - ich liebte sie so sehr, daß ich mich nicht von der Stelle rührte, bis ich sie gespürt hatte. Es konnte geschehen, daß ich mitten im Lokal stehenblieb und den Kellnern den Weg versperrte, während Antonio zur entfernten Garderobe ging. Er lächelte, wenn er das sah, und dann ordnete er mir das Haar so sorgfältig wie ein Friseur. Das war der Mann - ein und derselbe Mann -, der nun ungerührt zusah, wie ungeschickt ich mich in der Aufregung anstellte. Ich verhedderte mich, der Stock kam mir in die Quere, und dann riß irgendwo eine Naht, das demütigende Geräusch füllte die weitläufige Suite voller Empiremöbel bis in den letzten Winkel hinein. Ich kam mir wie ein tolpatschiger Krüppel vor. Die ganze Zeit über rührte sich Antonio nicht vom Fleck, er hatte die Arme über der Brust verschränkt und betrachtete mich mit süffisantem Lächeln. Er hatte beschlossen, alles, was kommen mochte, mit Schweigen zu quittieren und an diesem verächtlichen Lächeln abprallen zu lassen.
    ‹Wenn dir etwas daran liegt, deine blutleere Adlige und ihr Geld zu bekommen, dann wirst du tun, was ich dir jetzt sage›, stieß ich hervor und schleuderte den

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