Der Klavierstimmer
versetzen. Dann wieder stellte ich mir vor, wie er mich auslachen und mir die Tür weisen würde.»
Das, was ich zu erzählen hatte. Mein Körper reagierte schneller als der Verstand. Mit einemmal spürte ich, daß ich einen Magen hatte. Auch andere Teile des Körpers waren auf besondere, aufdringliche Weise gegenwärtig. Das erste Begreifen war wie eine vollständige Leere, die jeden anderen Gedanken verdrängte. Du hattest mir von der geplanten Abtreibung erzählt, und eine Weile klammerte ich mich an den Gedanken, daß es das war, was Maman als Druckmittel hatte benutzen wollen. Aber etwas in ihrer Stimme sagte mir, daß es um etwas anderes gegangen war, etwas, das viel schwerer wog: Die venezianische Adlige konnte gar nicht die erste Frau sein, mit welcher der Italiener Kinder hatte. Er hatte bereits Kinder, und zwar mit Maman: uns.
Kaum hatte dieser Gedanke meine Abwehr durchbrochen, geschah etwas Merkwürdiges mit meiner Aufmerksamkeit: Sie sprang, ohne daß ich es hätte verhindern können, in kurzen Abständen hin und her zwischen Mamans weiterer Erzählung, der Frage, ob Vater dieses Geheimnis kannte, und dem Versuch, mir Klarheit über die Bedeutung des Gehörten zu verschaffen - die Bedeutung, die es für mich, für uns haben konnte.
«Zwei Tage später flog ich nach Paris», fuhr Maman fort.«Laut Bericht hielt sich Antonio dort zu Proben auf. Es tat weh, Frédéric zu belügen, was den Zweck der Reise betraf. Gerade jetzt tat es besonders weh. Immer wieder mußte ich mir sagen, daß ich es für ihn tat. Antonio wohnte im Ritz, darunter tat er es nie, der Angeber. Es waren sicher ein Dutzend Male, daß ich die Place Vendôme umkreiste, bevor ich schließlich die Lobby betrat. Meine Hände waren kalt und feucht vor Schweiß.»
Maman rieb die Handflächen aneinander, sie schien noch einmal den kalten Schweiß zu spüren.
«Der Maestro sei nicht da, sagte man mir an der Réception. Wenn ich warten wolle … Ich wartete, stundenlang, bis in den späten Abend hinein. Der Kellner, der mir die Getränke brachte, begann Mitleid mit mir zu haben. Und dann auf einmal kam Antonio herein und ging zur Theke, um sich den Schlüssel geben zu lassen. Sein Schritt war schwerer als damals, und als er sich mit aufgestütztem Ellbogen - genau wie früher - an die Theke lehnte und mit der anderen Hand den Mantel zurückschlug, sah ich, daß er dick geworden war. Vor wenigen Tagen war sein fünfundfünfzigster Geburtstag gewesen. Er machte ein, zwei Schritte zur Seite, und nun lag das Gesicht im Lichtkegel eines Deckenstrahlers. Auch das Gesicht war aus dem Leim gegangen. Auf dem Foto neulich war mir das nicht aufgefallen. Jetzt, aus diesem Winkel, schienen mir Wangen und Kinn aufgedunsen, und die auffällig schmale, scharfe Nase, die ich besonders gemocht hatte, paßte da nicht mehr hin. Als er den Schlüssel und einen Stapel Post entgegennahm, blitzten die Ringe an der Hand auf. Ich … comment dire … ich war aufgeregt, ihn zu sehen, aber anders als erwartet, es war eine viel kühlere Aufregung, eine Aufregung ohne die lähmende Befangenheit, vor der ich mich gefürchtet hatte. Plötzlich wußte ich, daß ich ihm gewachsen war. Zwar war ich froh, daß inzwischen neues Personal hinter der Empfangstheke stand, das ihm nichts von mir und meinem Warten sagte. Aber ich hätte mich stark genug gefühlt, ihm auch dort unten zwischen den Plüschsesseln, vor aller Augen, entgegenzutreten. Es war ein wundervolles Gefühl, das nur durch einen einzigen Gedanken getrübt wurde: Hätte ich die Befreiung, die mir jetzt gelang, nur schon viel früher vollzogen!»
Maman war ganz in jenen vergangenen Moment versunken - so vollständig, wie nur sie es konnte. Für lange Minuten, in denen sie regungslos dasaß, schien es, als habe sie den Zweck der damaligen Reise, das Ziel der ganzen Erzählung und sogar meine Anwesenheit vergessen. In unregelmäßigen Abständen peitschte der Wind den Regen gegen das Fenster. Mit großer Anstrengung unterdrückte ich einen Hustenreiz. Es war wie bei einer Schlafwandlerin: Um nichts in der Welt durfte man sie stören. Ich wagte erst dann wieder richtig zu atmen, als sie von neuem zu sprechen begann, mit einer Stimme, die (es war sonderbar) sowohl hart und mitleidslos klang als auch verträumt.
«Ich ließ ihm Zeit. Mein Erscheinen sollte ihn im Zustand der Entspannung und Wehrlosigkeit treffen, wie er sich einstellt, wenn man nach einem langen Tag allein nach Hause kommt und alle Masken fallen läßt.
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