Der Klavierstimmer
aushalten und von neuem zu sprechen beginnen. Genau das würde der Augenblick für meinen Einsatz sein.
‹Jetzt reicht …›, fing er an, und nun hatte sich sein Gesicht zu einem klaren Ausdruck des Ärgers gefügt.
‹Es sind Zwillinge›, sagte ich, ‹ein Junge und ein Mädchen.› Ich weiß nicht warum, aber ich war stolz auf euch, als ich es sagte.
Ich muß die Worte mit solcher Ruhe und Sicherheit gesprochen haben, daß das Gesagte sofort wie eine unanfechtbare Tatsache im Raum stand. Antonio wußte nicht wohin mit den Händen und drehte an den Ringen. Zwei-, dreimal warf er mir einen Blick zu, und waren seine Blicke vorher höhnisch, verächtlich und bestenfalls mitleidig gewesen, so waren sie nun verlegen und voller Scheu.
‹Und es sind meine Kinder?› Die Frage kam leise und heiser.
‹So würde ich das nicht sagen, nein. Doch du hast sie gezeugt. ›
‹Und warum sollte ich das glauben?› Es hatte ein Angriff werden sollen, fiel jedoch in sich zusammen, noch bevor die Frage ganz ausgesprochen war.
‹Es wäre leicht zu beweisen.›
‹Und warum sagst du mir das erst heute?› Furcht und der Wunsch, sich zu wehren, hielten sich die Waage in seiner Stimme.
Ich zögerte. Für einige Augenblicke, in denen ich Papa vor mir sah, wie er mir die Liste mit den Abtreibungskliniken überreichte, war ich versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Ihm zu erzählen, wie mich damals die Erschöpfung nach schlaflosen Nächten in einen langen Schlaf riß, aus dem ich mit dem Entschluß aufwachte, das Kind zu behalten. Und daß auch Trotz im Spiel gewesen war, Trotz und Wut auf ihn. Aber nicht nur: auch der Wunsch - wenngleich nicht richtig eingestanden -, mit ihm verbunden zu bleiben, ohne ihn um seine Gegenwart bitten zu müssen. Und schließlich: daß es mir als eine Form der Macht über ihn erschienen war, ihm das Wissen vorzuenthalten, eine Macht, die er nie spüren würde und die gerade deshalb um so grausamer war, denn sie erlaubte mir, in Gedanken mit ihm zu spielen und ihn in seiner Ahnungslosigkeit klein und lächerlich zu machen, ohne daß er sich dagegen wehren konnte.
All das hätte ich ihm erzählen können. Als ich mich nachher in irgendeinem Café auf irgendeinem lauten Boulevard fragte, warum ich es nicht getan hatte, sah ich, statt daß mir ein Grund eingefallen wäre, nur sein verfettetes Gesicht vor mir, das die markanten Züge von früher verloren hatte und mir insgesamt viel vager erschien als damals. Oder vielleicht war es anders, vielleicht war genau das der Grund gewesen: In dieses Gesicht hinein konnte ich keine Wahrheiten sprechen, die so vieles über mich enthüllt hätten. Und so entschloß ich mich zu Worten, die ihn wie ein Faustschlag treffen sollten.
‹Weil meine Kinder um keinen Preis wissen sollten, was für ein … Lackaffe sie gezeugt hat›, sagte ich.»
Maman stolperte über das vernichtende Wort (gommeux) , als bereue sie jetzt, es damals verwendet zu haben. Ihr Zögern und das krampfhafte Schlucken, von dem es begleitet wurde, wirkten rührend und zugleich gespenstisch im Lichte dessen, was sie später getan hatte und was alle vernichtenden Schimpfworte aller Sprachen der Welt zusammengenommen wie einen gutmütigen Scherz aussehen ließ. Doch auch das gehörte zu ihrer halsbrecherischen Art des Erinnerns: Wenn sie bei Vergangenem war, so war das für sie vor allem vergangene Gegenwart, die vergessen ließ, daß inzwischen eine neue Gegenwart entstanden war, die ein anderes Licht auf das Gewesene werfen könnte.
«Worte von solcher Verachtung hatte er nicht erwartet, und er schloß die Augen wie jemand, der taumelt. Ich wünschte, er möge über seine Betäubung schnell hinwegkommen, denn sie drohte das moralische Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verschieben. Erst als er sich rührte und erneut ans offene Fenster trat, wagte ich, die neue Zigarette anzuzünden. Sie war fast zu Ende geraucht, als er mit sicheren Bewegungen das Fenster schloß, direkt in meinen Rauch hineintrat und mit beschämender Nüchternheit sagte:
‹Ich höre.›
‹Die anstehende Entscheidung im Opernwettbewerb - wann fällt sie?›
‹Wie … du meinst Monaco?›
Ich nickte.
‹Mitte Januar.›
‹Es ist eine Oper von Frédéric Delacroix, meinem Mann, dabei. Der Titel ist Michael Kohlhaas . Du wirst dafür sorgen, daß sie den Preis erhält und aufgeführt wird.› Ich hoffte, daß nur ich das Zittern in meiner Stimme bemerkt hatte.
‹Wie stellst du dir …›>
‹Du wirst dafür
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