Der Klavierstimmer
diese und ähnliche Worte gemeint haben, als sie von einer Liebeserklärung sprach. Von seiner Seite nämlich gibt es an Worten nichts, was darüber hinausginge. Die Musik würde an einigen Stellen zu einer Liebeserklärung passen. Aber insgesamt muß Vater gespürt haben, daß die Figur von Kohlhaas zerbräche, wenn die Empfindungen Lisbeth gegenüber zu stark würden. Auch das wäre eine Möglichkeit, die Oper umzuschreiben: Die Liebe siegt über den Wunsch nach Vergeltung.
Bevor Maman fortfuhr, führte sie die Tasse mit dem kalten Tee, auf dem sich ein dunkler Film gebildet hatte, zu den Lippen, vergaß ihr Vorhaben aber mitten in der Bewegung, weil die nächste Welle des Erinnerns sie überspülte und mit sich fortriß. Es waren Erinnerungen von einer anderen, düsteren Farbe, das war an ihren Händen abzulesen, die sie nun krampfhaft ineinander verschränkte, als suche sie in dem wechselseitigen Druck der Finger einen Halt gegen den Ansturm der Gefühle.
«Es war ziemlich genau vor einem Jahr, daß Frédéric die Oper abschloß: am 19. Oktober, einem Sonntag.
‹Eben habe ich die letzte Note geschrieben›, sagte er, als ich zu ihm ins Zimmer trat. Er legte den Füller zur Seite. ‹Es ist immer ein besonderer Moment, wenn man zusieht, wie die letzten Striche trocknen. Ein bißchen macht es auch traurig.› Ich stellte mich neben ihn, und wir sahen zu, wie die glänzende Tinte matt wurde. ‹Das heutige Datum wollen wir festhalten›, sagte er und nahm meine Hand.
Am nächsten Morgen ging er viel zu früh zum Kopierladen, er mußte fast eine Stunde warten. Das Einpacken und Abschicken der Partitur war anders als sonst. Dieses Mal war ich es, die schon lange vorher nach einem passenden Karton gesucht hatte. Sogar Seidenpapier und eine neue Rolle Klebeband hatte ich besorgt. Ich stand daneben, als Frédéric die Noten behutsam in den Karton tat und die Zwischenräume mit Seidenpapier ausstopfte. Zweimal machte er das Päckchen wieder auf und stopfte noch fester. ‹Damit kein Spielraum zum Rutschen bleibt. Die Ränder könnten beschädigt werden. Wer weiß, wie grob sie auf der Post mit so etwas umgehen›, sagte er. Am Ende bat er mich, die Adresse zu schreiben. ‹Du mit deiner eleganten Schrift›, sagte er und sah mich auf eine Weise an, die mich an seine bewundernden Blicke damals in Mailand erinnerte.
Das Paket brachten wir gemeinsam zur Post, und danach machten wir einen langen Spaziergang. Gesprochen haben wir nicht viel. Es war nicht nötig. Ich hatte keine einzige Note zu der Oper beigesteuert. Trotzdem hatte er recht: Es war auch meine Oper. Was wir da eben zur Post gebracht hatten, war ein Stück unseres Lebens. Es durfte nicht zurückgewiesen werden. Es mußte ein Erfolg werden. Es mußte einfach. Auf jenem Spaziergang glaubten wir felsenfest daran. Die Jury in Monaco würde erkennen, wie echt die Geschichte und die Musik waren. Dieses Mal würde sie es erkennen. Sie würde es erkennen.
Lange hielt diese Gewißheit nicht an. Es klingt paradox, aber die ersten Zweifel begannen sich genau an dem Tag einzunisten, als aus Monaco die Eingangsbestätigung für die Partitur kam. Es war eine Karte mit Umschlag, auf der nur zwei, drei förmliche Sätze und eine unleserliche Unterschrift standen. Es muß das krasse Mißverhältnis zwischen unserem Gefühl auf jenem Spaziergang und dem unpersönlichen Ton dieser Karte gewesen sein, das uns durcheinanderbrachte. Er dürfe nicht daran denken, wie viele von diesen Karten verschickt worden seien, sagte Frédéric. Dabei war dies nun wirklich nicht das erste Mal; mit Bestätigungen dieser Art hätten wir eine ganze Schachtel füllen können. Doch dieses Mal war es anders: In diese Oper hatte Frédéric alles hineingelegt, vor allem die bitteren Erfahrungen im Heim und die vielen Demütigungen auf der Suche nach Anerkennung. Die Arbeit an der Partitur, sie war der Versuch gewesen, diese Dinge zu bewältigen und sich aus ihrem würgenden Griff zu befreien. Das aber konnte nur gelingen, wenn er damit endlich erfolgreich war. Die Geschichte der Mißerfolge mußte ein Erfolg werden.
In den folgenden Tagen sagten wir uns immer wieder vernünftige Dinge, vor allem, daß jene Karte nicht das geringste über die Erfolgsaussichten aussagte. Doch es nutzte wenig. Allein schon die Tatsache, daß Frédérics Partitur eine unter vielen war, empfanden wir als bedrohlich und fast gleichbedeutend mit Ablehnung.»
Maman löste ihre Hände, die vom Drücken weiß geworden
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