Der Klavierstimmer
Inszenierung von Carmen kippte, in der die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik zu Dutzenden mit brennenden Zigaretten auf die Bühne kamen. Nur in den Spielsälen, da ergriff etwas Besitz von ihm, das die panische Abwehr zum Schweigen brachte, gleichgültig, wie dicht der blaue Dunst über den Roulettetischen hing.»
Es wurde still im Raum, sehr still. Ich hörte das fehlende Ticken der Pendule. Einige Momente lang fürchtete ich, Maman könnte abstürzen und in schweigenden Erinnerungen versinken, aus denen sie nicht wieder zurückfinden würde. Doch dann fuhr sie mit der Zunge über die ausgetrockneten, gespaltenen Lippen, der schrecklich fragile Körper straffte sich, und als sie weitersprach, war es wieder in dem angespannten, lauernden Ton, der die Atmosphäre in der Suite des Ritz besser heraufbeschwor als die Worte selbst.
«Die eine Hand schützend an den Hals gepreßt, ging er mit schnellen Schritten ans andere Ende des Raums, wo er das Fenster aufriß und tief Luft holte.
‹So›, sagte ich, ‹du verstehst also kein Wort. Dann will ich’s dir erklären. Die Rolle der Frau, die mit dir Kinder hat, ist, wie ich sagte, bereits besetzt. Von mir.›
Obwohl er im offenen Fenster stand, faßte sich Antonio wieder an den Hals. Zeit verstrich, immer mehr Zeit, ohne daß er sich rührte. Ich werde nie erfahren, was damals in ihm vorging. Langsam tat er ein paar Schritte in den Raum hinein, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen des seidenen Morgenmantels, der ihn wegen der süßlichen Farben wie eine Figur in einer schnulzigen Operette aussehen ließ.
‹Du willst mir also weismachen, daß du ein Kind von mir hast›, sagte er mit gepreßter Ruhe, den Blick auf den Teppich gerichtet. Dann hob er ruckartig den Kopf, und unsere Blicke begegneten sich über die ganze Länge des Raums hinweg. ‹Was für ein ausgemachter Blödsinn!›
‹Nicht ein Kind›, sagte ich - und es war wundervoll, es zu sagen -, ‹sondern zwei.›
Antonio explodierte vor Erleichterung, die Allergie war vergessen, und er machte mit den Armen weit ausgreifende Bewegungen.
‹Warum nicht drei, vier … ein Dutzend!›!>
Er muß plötzlich sicher gewesen sein, eine Irre vor sich zu haben, die phantasierte, eine behinderte Frau, die nicht darüber hinweggekommen war, daß er sie hatte sitzenlassen, und die ihn jetzt, ein Vierteljahrhundert später, mit einem wirren Plan, den sie wer weiß wie lange schon in ihrer verletzten Seele herumgetragen hatte, unter Druck zu setzen versuchte. In seinem höhnischen Lachen entblößte er zwei Reihen makellos weißer Zähne. Schon damals hatte er von Jacketkronen gesprochen; der gelbliche Schimmer auf den ursprünglichen Zähnen hatte ihn immer gestört. Doch sie waren zu weiß, die neuen Zähne, es war ein verlogenes Weiß, zu hell und zu gleichmäßig, und alles, was aus diesem waschmittelweißen Mund kam, klang unecht. Ich war drauf und dran zu fragen: Bist du sicher, daß du noch deine alte Stimme hast?
‹Und mit diesem Märchen will Madame - oder ist es: Mademoiselle? - hausieren gehen, wenn ich nicht tue, was sie zu befehlen beliebt? Dio mio! Du armes kleines Ding, du verwirrte kleine Möchte-gern-Erpresserin!›
Ich hätte vieles tun können, ohne daß es ihn überrascht hätte: wütend schreien, mit dem Stock auf ihn losgehen, weinen … Nur auf das eine war er nicht gefaßt: daß ich mich nun meinerseits auf eine Sessellehne setzte, den Stock der Länge nach auf dem ausgestreckten Zeigefinger balancierte und ihn spöttisch ansah, die Situation demonstrativ auskostend. Das Gesicht von jemandem, der mit einer Erwartung ins Leere greift, weil der andere sich allem Erwartbaren entzieht und nur noch durch seinen taxierenden Blick anwesend ist - ein solches Gesicht sieht stets ein bißchen dümmlich aus, unstet und mit einer Neigung zur Grimasse, weil der Besitzer keine Ahnung hat, um welche Zukunft herum er die Muskeln gruppieren soll. Antonios Gesicht indessen sah besonders albern, geradezu verblödet aus, als er mit leicht geöffnetem Mund auf den schwankenden Stock glotzte, den ich mit diabolischem Vergnügen fast herunterfallen ließ, bevor ich ihn mit einer Drehung des Fingers ins Gleichgewicht zurückholte. Es würde mich nicht wundern, wenn ich in diesem Moment richtig vergnügt ausgesehen hätte. Und wieder hatte ich Zeit, viel Zeit. Diejenige zu sein, welche die Zeit auf ihrer Seite hat, schien mir in jenem Moment größter Luxus zu sein. Ich wußte: Bald würde er es nicht mehr
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