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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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waren, und nahm eine Zigarette. Während sie rauchte, war es still. Bleierne Müdigkeit überkam mich. Ich überlegte, wie lange ich schon ohne richtigen Schlaf war, aber ich hatte die Übersicht über die Tage verloren. Maman beugte sich entschlossen nach vorn und drückte die Zigarette mit fester Hand aus, statt sie wie üblich auf dem Rand des Aschenbechers verglühen zu lassen. Wie früher war das ein Zeichen, daß sie sich zu einem Entschluß durchgerungen hatte.
    «Was ich dir jetzt erzähle … Du mußt mir versprechen, es niemals zu verraten», begann sie.
    Ich nickte.
    «Niemals», wiederholte sie und sah mich an, als wolle sie mir mit ihrem Blick die Lippen für immer versiegeln.«Das ist das eine, was er niemals erfahren darf. Jamais .»
    «Du kannst dich darauf verlassen», sagte ich.
    Für einige Augenblicke kniff sie die Augen zusammen, als prüfe sie die Glaubwürdigkeit meines Versprechens. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und fuhr in der Erzählung fort.
    «Es war Ende November. Mehrere Wochen waren vergangen, seit wir die Partitur zur Post gebracht hatten. Wir sprachen nicht mehr oft über Monaco und den Wettbewerb; es war längst alles gesagt. Aber es verging kein Tag, ohne daß wir daran dachten. Frédéric nahm keine neue Komposition in Angriff. Wenn er am Schreibtisch saß, blätterte er in der Kohlhaas -Partitur. Die wenigen Male, wo ich den Flügel hörte, waren es Melodien aus dieser Oper. Es war, als überprüfe er, ob sie gut genug waren - gut genug, um die Welt zur Anerkennung zu zwingen. Bevor die Jury das Urteil gesprochen hatte, konnte er an nichts Neues denken. Er lebte mit angehaltenem Atem, und ich auch. Oft wurde ich wach, weil er sich ruhelos herumwälzte. Am Ende solcher Nächte stand ich mit ihm auf und begleitete ihn zur S-Bahn.
    Es war an einem solchen Morgen, daß es geschah. In der Post war die neue Ausgabe von Paris Match . Daß ich dieses Magazin las - ich habe mich stets ein bißchen geniert. Aber seit eurem Weggang war es so still, so fürchterlich still im Haus, wenn Frédéric bei der Arbeit war. Ich brauchte etwas, das die Gedanken betäubte. Nicht die Schmerzen; die Gedanken. Und die Erinnerungen. Kaum hatte ich mit dem Blättern begonnen, da stieß ich auf eine Klatschgeschichte über Antonio … Antonio di Malfitano.»
    Maman hatte schon Atem für den nächsten Satz geholt, da hielt sie inne. Es kam mir vor, als überlege sie, was ich von dir über sie und den Italiener gehört haben konnte. Mit einer zerstreuten Handbewegung schien sie die Frage schließlich beiseite zu schieben.
    «Der Text war um ein großes Foto herum arrangiert, das ihn mit einer blassen, alabasternen Schönheit zeigte.»Mamans Lippen zitterten.«Berichtet wurde, daß er sich mit dieser Frau, einer venezianischen Adligen, verlobt hatte. Die Hochzeit sollte Mitte Februar in Venedig stattfinden, mitten im Karneval. Sie stamme aus einer steinreichen, stockkatholischen Familie, hieß es, und der Journalist ließ durchblicken, daß die Leute bigott seien. Auch klang an, daß Antonios Vergangenheit mit Frauen nicht zu dieser Bigotterie passe. Das gleiche gelte von seiner bekannten Leidenschaft fürs Roulette. Sie werde ihn schon zähmen, hatte die Verlobte gesagt, um dann hinzuzufügen: Sie werde etwas Besonderes für ihn sein, nämlich die erste Frau, mit der er Kinder und eine richtige Familie haben werde.»Maman biß sich auf die Lippen.«Und Antonio muß gesagt haben, sein Leben nehme dadurch eine ganz neue Wendung. Anfällig für Kitsch und Klischees war er immer schon.
    Am Ende des Berichts erfuhr man, daß Antonio seit letztem Jahr den Vorsitz in der musikalischen Jury von Monaco hatte und Bevollmächtigter der Stiftung geworden war, welche die musikalischen Wettbewerbe ausrichtete und Nachwuchssänger unterstützte. Ich muß eine heftige Bewegung gemacht haben, als ich das las, denn die Teetasse kippte um, und der Tee versickerte im Tischtuch. Einen Plan hatte ich nicht sofort. Aber ich war wie elektrisiert und las den Bericht stets von neuem. Erst im Laufe des Tages begann ich mir vorzustellen, wie es sein würde, ihn aufzusuchen und unter Druck zu setzen. Ich werde etwas Besonderes für ihn sein, nämlich die erste Frau, mit der er Kinder haben wird. In meiner Vorstellung sprach die blasse Adlige die Worte mit schriller, ans Hysterische grenzender Stimme. Immer wenn ich den Satz in mir hörte, schien es mir, als müßte das, was ich zu erzählen hatte, Antonio in helle Panik

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