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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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um sie zu vollziehen, und nun stellst du dich, ohne es eigentlich zu wollen, dumm und taub in der Hoffnung, es werde alles vorübergehen, du weißt nicht wie, du glaubst es eigentlich auch nicht wirklich, aber du tust so als ob. Ich machte Tee, ließ ihn viel zu stark werden und goß ihn in den Abfluß. Ich tat, als kümmerte ich mich um die Blumen. Erst als ich den Hörer abnahm und die Nummer meines Coiffeurs wählte, wurde es zuviel, ich legte auf und stellte mich der Angst.
    Auf gar keinen Fall durfte Frédéric die Sache mit Carpentier lesen. Es müßte ihm ein vollkommenes Rätsel sein, warum man sich die Mühe gemacht hatte, ihm jenen lügenhaften Brief zu schreiben. Und er würde nicht ruhen, bis er es gelöst hatte. Du weißt ja, wie er ist: Er gibt nie auf. Und schon gar nicht in dieser Sache. Er würde mit mir darüber sprechen wollen, immer wieder. Ich müßte lügen, lügen und nochmals lügen. Und das ausgerechnet jetzt, wo wir uns so nahe waren wie nie zuvor. Es war unausdenkbar. Und wer weiß, vielleicht würde er auf seiner rastlosen Suche irgendwann, irgendwie auf die Wahrheit stoßen. Dann würde alles einstürzen. Was ich getan hatte, es würde ihm wie Verrat vorkommen. Nie würde er es mir vergeben. Es würde ihm vorkommen, als sei unsere Nähe eine einzige, von mir inszenierte Lüge gewesen.»
    Maman sah mich an, in den Augen flackerte Angst.
    «Versprichst du mir, es für dich zu behalten? Ganz für dich? Für immer? Komme, was wolle?»
    Ich nickte.
    «Auch Patricia darfst du es nicht sagen. Sie und Frédéric … Vielleicht …»
    «Glaube ich nicht», sagte ich,«aber du kannst dich auf mich verlassen.»
    Diese Angst würde sie bis zuletzt nicht loswerden. Jetzt schloß sie wieder die Augen.
    «Ihm nur die Notiz in Le Monde zu zeigen war unmöglich. Er würde sofort fragen, was in Paris Match darüber stehe. Und überhaupt nichts zu sagen - ich hätte es nicht ausgehalten. Er las die französischen Zeitungen selten. Doch was, wenn er es zufällig gerade an diesem Tag tat? Ich nahm einen breiten Filzstift und markierte Anfang und Ende des Texts, das Ende natürlich dort, wo ich es haben wollte, in der rechten unteren Ecke der Seite. Die dicken Striche, die ich dort setzte, sie sollten jeden Impuls unterbinden, die Seite in Erwartung einer Fortsetzung zu wenden. Um die Markierungen hier weniger ungewöhnlich erscheinen zu lassen, brachte ich entsprechende Zeichen in Le Monde an. Es sah nun aus - so hoffte ich -, als habe ich die Zeichen gesetzt, um die Bedeutung des Inhalts zu unterstreichen. Ein bißchen hoffte ich auch, daß Frédéric über den Text so aufgebracht sein würde, daß er zu blättern vergäße.
    Er las die Artikel. Er las sie stets von neuem, tagelang. Die Zeitungen lagen die ganze Zeit über auf dem Schreibtisch. Öfter als sonst ging ich hinüber und sah nach, ob er die Seite der Illustrierten gewendet hatte. Es schien nicht so. Eines Tages kam ich dazu, wie er die Texte ausschnitt und auf einen Bogen Notenpapier klebte. Der Atem stockte mir, als er den gefährlichen Text umdrehte und zum Klebstoff griff. Um ihn abzulenken, fragte ich ihn etwas Belangloses, und dann trat ich neben ihn und nahm ihm den Text aus der Hand. ‹Du hältst am besten die Unterlage fest›, sagte ich, setzte das Blatt auf und glättete die Blasen. Die Gefahr war vorüber. Jetzt klebten wir den kürzeren Text darunter. ‹Merci› , sagte er und nahm meine Hand. Ich brachte kein Wort heraus.
    Auf einen anderen Bogen klebte er eines der Fotos von Antonio. Zu meiner Überraschung war es das sympathischste von allen: Antonio trat aus dem Casino, er war geblendet vom hellen Tageslicht, und sein Gesicht sah dadurch sehr verletzlich aus, gar nicht selbstsicher wie sonst.
    Nach einer Woche zerknüllte Frédéric den Bogen mit den Artikeln, warf ihn in den Papierkorb und leerte den Korb in die Mülltonne. Das Foto schnitt er aus dem anderen Bogen heraus und lehnte es an die Schreibtischlampe. Eines Abends holte er die Nagelschere und löste aus dem Foto die Gestalt von Antonio heraus. Er klebte sie auf eine Karteikarte und machte aus einer anderen Karte eine Stütze für das Bild. Wenn man genau hinsah, waren die Konturen der Figur gewellt; die Krümmung der Scherenblätter war stärker gewesen als diejenige der Bildlinien. Stundenlang saß Frédéric am leeren Schreibtisch und betrachtete das Bild: Dies war der Mann, für dessen Stimme er Berge von Noten geschrieben hatte. Der Mann, der ihm stets vor Augen

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