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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Augen, daß er kaum geschlafen hatte. Gegen alle Gewohnheit trank er nur Kaffee. An der Litfaßsäule ging er vorbei, ohne einen einzigen Blick auf die zerfetzte Fläche zu werfen.»
    Ich glaube, es war an dieser Stelle der Erzählung, daß Maman hinausging. Immer öfter hatte sie die Stellung gewechselt, wenn ein heftiger Schmerz sie zusammenzucken ließ. Als sie zurückkam, strich sie die Ärmel des blauen Kleids glatt. Die Bewegung erinnerte mich an einen schwülen Sommertag, es war noch in Genf, ich muß sieben oder acht gewesen sein. Alle Leute waren leicht bekleidet, niemand trug mehr Kleidungsstücke als unbedingt nötig. Da kam Maman in den Park, wo ich spielte. Wie immer trug sie ein Kleid mit langen Ärmeln. Sie setzte sich auf eine Bank neben lauter Frauen mit ärmellosen Kleidern. Ich war stolz, daß sie viel eleganter aussah als diese Frauen. Zugleich aber fand ich es merkwürdig und ein bißchen beklemmend, daß sie auch bei dieser Witterung lange Ärmel trug. Sie wirkte dadurch fremd und unberührbar. Als wir später zusammen im Aufzug standen, fragte ich sie, warum sie nie kurze Ärmel trage. In der Spiegelwand des Lifts sah ich, wie sie erschrak und mit geschlossenen Augen nach Fassung rang.«Du weißt doch, daß ich diesen Unfall hatte», sagte sie schließlich und küßte mich aufs Haar.
    «In den letzten Wochen haben wir … comment dire … sehr leise gelebt», fuhr Maman nun fort.«Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, aber es kam mir vor, als sprächen wir auch leiser als sonst miteinander. Viel war es nicht, was wir redeten. Nicht etwa, weil wir uns nichts zu sagen hatten. Im Gegenteil: Wir waren uns so nahe wie vorher nie, näher noch als in der Zeit des Wartens auf Nachricht aus Monaco. Eines Abends dann war Frédéric beim Essen noch stiller als sonst, und er blickte so abwesend vor sich hin, daß er sicher nicht merkte, was er aß. Plötzlich hielt er inne und legte Messer und Gabel beiseite. Er tat es so langsam und vorsichtig, als seien sie zerbrechlich. Seine Hand zitterte, als er in die Jacke faßte, dorthin, wo die Brieftasche war. Im letzten Moment zögerte er, zog die Hand zurück, hielt sie eine Weile in der Schwebe, um die Brieftasche schließlich doch hervorzuholen. Er sah mich nicht an, als er die sechs Karten für die Staatsoper nebeneinander aufs Tischtuch legte.»Mamans Stimme brach.«Er wollte, daß sie genau in einer Reihe lägen; in solchen Dingen ist er ja schrecklich penibel. Doch seine Hände zitterten jetzt derart, daß er die Karten mit jeder Berührung noch mehr in Unordnung brachte. Er geriet in eine solche Wut über seine Ungeschicklichkeit, daß er mit der einen Hand auf die andere einschlug. Erst als ich meine Hand auf die seine legte und mit der anderen die Karten ausrichtete, wurde er ruhiger. Er streifte mich mit einem dankbaren Blick, sah dann aber wieder weg.
    ‹Die linke Seitenloge›, sagte er. ‹Wir werden allein sein.›
    Und nach einer Pause, in der er die Karten zurück in die Brieftasche tat:
    ‹Er hat uns betrogen, dich und mich. Betrogen hat er uns›, sagte er.
    Er mußte dreimal ansetzen, bevor ihm diese wenigen Worte gelangen. In der Nacht, als ich sein schlafendes Gesicht neben mir sah, dachte ich: Es hatte sich angehört, als seien es die allerersten Worte, die er in seinem Leben sprach.
    Durch den Sturz von der Leiter waren meine Schmerzen stärker geworden. Manchmal waren sie unerträglich. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte ich beinahe vergessen, daß die Schmerzen mit Antonio zu tun hatten. Jetzt war er darin wieder ganz gegenwärtig, und wenn es wie mit Messern durch mich hindurchfuhr, wurde ich von Wellen des Hasses förmlich überspült. Ich träumte wieder öfter vom Unfall in Bern, doch anders als früher: Die Arkaden, unter denen ich auf Antonio wartete, säumten jetzt die Place Vendôme, und im Moment des Unfalls war der Platz in weißglühende Helligkeit getaucht, welche die paradoxe Angst entstehen ließ, ich könnte das Augenlicht verlieren. Obwohl Frédéric mich drängte, ging ich nicht zum Arzt. Es war ein Gefühl in mir wie: Das lohnt sich nicht mehr. Und wie du siehst, hatte ich recht», fügte Maman leise hinzu.
    Das Geräusch der ersten S-Bahn war zu hören, und kurz darauf sprang der Motor eines Autos an. In weniger als einer Stunde würde es hell werden. Ich hatte das Gefühl, ein Jahr lang nicht geschlafen zu haben. Wenn die Geräusche der erwachenden Stadt den Strom des Erzählens nur nicht versiegen lassen, dachte

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