Der Klavierstimmer
Frédéric durch die Telefonleitung hindurch etwas zu sagen, was verhindern könnte, daß alles in ihm einstürzte.
‹Ich komme›, sagte er heiser und legte auf.»
Liebermann, so erfuhr ich inzwischen, war mit im Raum, als der Anruf kam. Nachdem er aufgelegt habe, sei Vater ganz still stehengeblieben. Mit seinem Gesicht sei etwas geschehen, was er noch niemals zuvor an einem Gesicht erlebt habe: Ganz langsam, wie in Zeitlupe, sei das Gesicht erschlafft und dann regelrecht zerfallen, um sich schließlich in einem Ausdruck wieder zusammenzufügen, der ihn an kalten Stein denken ließ. Zunächst dachte Liebermann, es sei jemand gestorben. Aber der Haß, der durch das versteinerte Gesicht hindurch nach außen drängte, paßte nicht dazu. Ohne ein Wort, als sei er die ganze Zeit über allein gewesen, ging Vater hinaus.
«Ich hatte angenommen, er nähme ein Taxi», sagte Maman.«Als er nach einer Stunde immer noch nicht da war, befürchtete ich Schlimmes. Schließlich kam er in Sicht. Langsam ging er auf das Haus zu, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Hemdkragen offen, die Krawatte gelockert und verrutscht. Vor dem Gartentor blieb er stehen und rauchte eine Zigarette. Das hatte er noch nie getan, wenn er heimkam. Noch nie. Ich wagte nicht hinauszugehen. Am Ende trat er die Kippe mit drehenden Bewegungen aus. Es waren so viele Bewegungen, daß nur noch Staub übrig sein konnte.
Den Brief hatte ich ihm auf den Schreibtisch gelegt. Ich wußte: Dort würde er sich den Sätzen stellen wollen, die alle Hoffnung vernichteten. Er las den Brief im Stehen. Er las ihn mehrmals. Immer wenn er mit dem Blick unten angekommen war, hob er den Kopf und begann von vorn. Sein Blick war voll von erschütternder Ungläubigkeit. Ich trat neben ihn, wagte aber nicht, ihn zu berühren. Er war so angespannt, daß man den Eindruck haben mußte, er werde bei der leisesten Berührung zerspringen. Schließlich zeigte er auf den letzten Satz, die barocke französische Grußformel. ‹Eine solche Lüge›, sagte er leise.»
Vater. Du hast immer alles ganz wörtlich genommen; wortwörtlich. Und wenn die anderen dann nicht zu jedem einzelnen ihrer Worte standen, fühltest du dich betrogen und verbrachtest Tage damit, sie im inneren Gespräch zur Rechenschaft zu ziehen.
« Pour des raisons imprévues - viele Tage und Nächte vergingen, in denen wir immer von neuem über diese Worte nachdachten. Eigentlich, fanden wir, war es eine Unverschämtheit, uns mit einer derart nichtssagenden Auskunft abzuspeisen. Wir beschlossen, mit dem Deuten aufzuhören - nur um bei nächster Gelegenheit weiterzumachen. Frédéric meldete sich krank und ging nicht mehr ins Geschäft. Das war noch nie vorgekommen. »
Tatsächlich machte sich Liebermann, der an Vaters zerfallendes Gesicht bei jenem Anruf dachte, seine Gedanken. Vater und krank, das gab es einfach nicht, meinte er.
«Eines Morgens setzte sich Frédéric mit einer Kanne Kaffee neben das Telefon und wählte alle fünf Minuten die Nummer in Monte Carlo. Ich brachte immer neuen Kaffee, und das Essen stellte ich ihm auf den Telefontisch. Bis tief in die Nacht hinein drückte er immer wieder die Wahlwiederholungstaste, und nach wenigen Stunden Schlaf machte er am nächsten Tag weiter. Er rasierte sich nicht mehr. Rasieren werde er sich erst dann wieder, sagte er, wenn er eine Verbindung mit Monte Carlo bekommen habe.
Wenn Frédéric endlich Schlaf gefunden hatte, war ich es, die zum Telefon ging. Nacht für Nacht wählte ich Antonios Nummer. Die Stunden verstrichen, und auch ich stieß auf eine Mauer des Schweigens. Es war mir klar, daß das nichts zu bedeuten brauchte. Ein Mann wie Antonio war rund um den Globus unterwegs, und zudem, das wußte ich aus der Presse, hatte er nicht nur diese Wohnung. Und doch war ich schon damals überzeugt davon, daß er etwas mit der Sache zu tun hatte. Bestärkt wurde ich in meinem Verdacht, als ich eines Nachts wieder seine Nummer wählte und vom Tonband die mechanische, kalte Antwort erhielt: Le numéro que vous demandez n’est pas attribué.
Zur Gewißheit wurde es durch Artikel in Le Monde und Paris Match , die in den ersten Julitagen erschienen: Zum erstenmal seit Bestehen des monegassischen Opernwettbewerbs werde es keine Preisverleihung und keine Aufführung geben. Offenbar seien Stiftungsgelder veruntreut worden. Aus gutunterrichteter Quelle habe man erfahren, daß der berühmte Tenor Antonio di Malfitano in die Sache verwickelt sei. Der Tenor sei nicht zu
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