Der Klavierstimmer
gestanden hatte, als er die langen Arien schrieb, in denen Michael Kohlhaas sich an der Ungerechtigkeit wund rieb. Der Mann, dessen Schallplatte uns zusammengebracht hatte. Und jetzt: der Mann, der ihn um die Anerkennung betrog, auf die er ein Leben lang gewartet hatte.
Das Foto war das letzte, was Frédéric vernichtete. Vorher waren noch die beiden Briefe mit dem fürstlichen Emblem dran. Schicken Sie mir umgehend die Partitur zurück! schrieb er nach Monaco. Keine Anrede, keine Grußformel, nur diesen einen Satz und die Unterschrift. Dann zerriß er den Brief mit der Absage und warf die Schnipsel in die Toilette. Zwei Tage später verbrannte er den ersten Brief. Verstehst du: Er verbrannte ihn! Die verkohlten Reste um den Aschenbecher herum wischte er mit übertriebener Sorgfalt zusammen. Es kam mir vor, als könne sich diese Sorgfalt jeden Augenblick in zerstörerische Wut verwandeln. Am Schluß nahm er den Brieföffner und zerstampfte mit dem Griff alle Reste zu Staub.»
Ich kann die Brandspuren auf dem Schreibtisch sehen, welche die verglimmenden Papierreste hinterlassen haben. Zwei schwarze Stellen, eine größere und eine kleinere. Ich brauche nur den Arm auszustrecken, dann kann ich sie berühren. Vater. Der Brief mußte zu Staub werden. Ausgerechnet dieser Brief, auf den du ein Leben lang gewartet hast. Zu Staub. Damit er vollkommen aus der Welt verschwand. Als hätte es ihn nie gegeben.
«Es dauerte weitere drei Tage, bis das Foto von Antonio verschwand. Frédéric stand am Fenster, als ich das Arbeitszimmer betrat. Seine rechte Hand war zur Faust geballt, nur ein kleines Stück der Karteikarte war zu sehen. Als ich zu ihm trat, versuchte er sein trotziges Lächeln. Es mißlang, das Gesicht blieb versteinert. Zu sehen, wie das Gesicht ihm nicht mehr gehorchte: Das war schlimmer als jede andere Äußerung von Enttäuschung und Wut zuvor. Bis in den Abend hinein behielt er das zerknüllte Foto in der Faust. Dann warf er es draußen in die Mülltonne und begrub es unter dem Abfall, den er aus der Küche mitgenommen hatte. Ich sehe ihn dort stehen, eine unbewegliche Gestalt in der fortgeschrittenen Dämmerung, die Arme hingen einfach herunter, die Hände taten nichts, es war, als hätte er soeben die letzte Handlung seines Lebens vollzogen.
Nachher setzte er sich mit einem neuen Stoß Notenpapier an den Schreibtisch. Als ob nichts geschehen wäre. Abend für Abend, Wochenende für Wochenende saß er vor denselben leeren Blättern. Oft blieb er länger als nötig im Geschäft. Er rauchte mehr als sonst. Ab und zu klagte er über ein Gefühl der Enge in der Herzgegend. Es würde nichts nützen, das Fürstenpalais niederzubrennen, sagte er einmal, als er schlaflos neben mir lag. Sonst verlor er über Monaco kein Wort mehr. Im Haus wurde es noch stiller.
Dabei wäre es vermutlich geblieben, irgendwann wären Wut und Enttäuschung verglommen und einer bitteren Resignation gewichen, wäre nicht eines Tages Anfang August jenes Plakat erschienen. Ein rotes Plakat mit weißer Schrift. Als ich ans Fenster trat, war ein Mann dabei, es mit einer langstieligen Bürste, von der weißlicher Kleister tropfte, an die Litfaßsäule zu klatschen. Aus diesem Winkel konnte ich den Text nicht erkennen. Ich habe keine Ahnung, warum ich ihn unbedingt lesen wollte. Wirklich überhaupt keine Ahnung. Doch ich ging hinaus, und das erste, was mir in die Augen fiel, war Antonios Name. Es ging um ein Gastspiel der Mailänder Scala, und er würde an drei Abenden im Oktober Cavaradossi in Tosca singen.
Ich habe seither so oft von diesem Moment geträumt, daß ich nur noch schwer zwischen Traum und Erinnerung unterscheiden kann. Im Traum, der immer genau gleich verläuft, fahre ich mit dem Zeigefinger den Buchstaben von Antonios Namen entlang, alles fühlt sich glitschig und klebrig an, und vor dem Finger, der unnatürlich groß und häßlich ist, staut sich der Kleister wie eine Bugwelle. Dann gibt es regelmäßig einen Riß, und als nächstes graben sich meine zehn Finger in das feuchte Papier und versuchen erfolglos, es herunterzureißen. Ich wache in dem Moment auf, in dem ich von der Leiter falle.
Die Sache mit der Leiter stimmt. Ich meine mich zu erinnern, daß es ganz leer in mir wurde, als ich begriffen hatte, was auf dem Plakat stand. Leer bis auf einen einzigen Gedanken: Auf gar keinen Fall durfte Frédéric das Plakat sehen. Erst viel später fiel mir ein, daß es ja an zahllosen anderen Stellen der Stadt auch hing. Ich holte
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