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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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die große Leiter und kletterte hinauf, bis ich den oberen Rand des Plakats zu fassen bekam. Das Papier gab nach, aber es war noch so feucht vom Kleister, daß es sofort riß. Es waren immer nur kleine Schnipsel, die abrissen, der Mißerfolg machte mich wütend, meine Bewegungen wurden immer hektischer, und als ich einmal besonders heftig riß, verlor ich das Gleichgewicht und fiel von der Leiter, genau auf die kaputte Hüfte. Es tat so weh, daß ich wohl für einen Augenblick ohnmächtig wurde, denn plötzlich sah ich Gesichter von Passanten über mir und hörte die Frage, ob man einen Krankenwagen rufen solle. Ich wehrte ab und rappelte mich mühsam auf. Sie stützten mich, und jemand brachte die umgefallene Leiter zurück in den Keller. Bevor ich die Haustür schloß, blickte ich zur Säule hinüber. Die Gruppe der Passanten löste sich nur langsam auf. Alle würden sie sich fragen, was in aller Welt ich auf der Leiter gewollt hatte.
    Als Frédéric gegen Abend nach Hause kam, stand ich am Fenster und hoffte, er würde wie immer achtlos und mit gesenktem Kopf an der Litfaßsäule vorbeigehen. Wäre das Plakat nur nicht dunkelrot gewesen! Dunkelroten Dingen kann er einfach nicht widerstehen, und er sieht sie noch durch den dichtesten Nebel hindurch, besonders wenn es dasjenige Rot ist, das er Bordeauxrot nennt. Und das Plakat hatte diese Farbe. Als übe sie magische Anziehungskraft aus, hob er denn auch für einen Augenblick den Kopf, ich vergaß zu atmen und war erleichtert, als er, ohne das Tempo der Schritte zu verlangsamen, weiterging. Er hatte schon das Gartentor geöffnet, da hielt er abrupt inne, in seinem Gesicht zuckte es merkwürdig, und nun ging er zurück und stellte sich vor das rote Plakat. Minutenlang stand er regungslos da, nur die Daumen rieben ziellos am Griff der Tasche, die er mit beiden Händen vor sich hielt. Das ist die eine Sache zuviel, dachte ich, das hätte nicht auch noch geschehen dürfen. Es war, als spürte ich durch das Fenster hindurch, wie Frédéric im Inneren eine Grenze überschritt. Erst später wurde mir klar, daß in mir bereits etwas Ähnliches geschehen war, das durch die ungläubige, hilflose Art, in der er das Plakat anstarrte, gleichsam besiegelt wurde.
    An diesem Abend erfuhr ich, daß Frédéric es gewußt hatte. Das mit Antonio und euch, meine ich. Ich hatte es für das bestgehütete Geheimnis meines Lebens gehalten, und er hatte es die ganze Zeit gewußt. Es verschlug mir die Sprache. Stell dir vor: Er hat all die Jahre über gewußt, daß er nicht euer wirklicher Vater ist! Und hat kein Wort darüber verloren! Es habe ihm nichts ausgemacht, sagte er in seiner trockenen Art. Je wichtiger die Sache, desto weniger Worte - das ist sein Prinzip. Manchmal liebe ich ihn dafür, dann wieder möchte ich ihn schütteln.
    Im Verlauf des Abends erzählte ich ihm alles über Antonio und mich. Er hörte schweigend zu. Daß er die Bedeutung des Gehörten verstand, merkte ich nur daran, daß er mich bei jeder neuen Enttäuschung, von der ich sprach, noch fester an sich zog. Am Schluß hielten wir uns eng umschlungen. ‹Also hat er nicht nur mich, sondern uns beide betrogen›, sagte er schließlich.
    In gewissem Sinne haben wir die Umarmung nie mehr gelöst. War sie zu Beginn vor allem Ausdruck geteilten Leids, so wurde sie mit der Zeit immer mehr Ausdruck eines geteilten Vorsatzes. Wir haben ihn nie ausgesprochen, diesen Vorsatz. Mit keinem Wort. Das machte ihn nicht schwächer. Im Gegenteil. Wir hüllten uns von Tag zu Tag mehr ein in unseren verschwiegenen Plan, er entwickelte sich zu einem Cocon aus beredtem Schweigen, der die Ereignisse draußen in der Welt wie bloße Staffage aussehen ließ.
    Mitten in jener Nacht stand Frédéric auf, und als er nicht zurückkam, ging ich nach unten und rief nach ihm. Die angelehnte Kellertür brachte mich schließlich darauf, draußen nachzusehen. Im Schlafanzug und mit bloßen Füßen stand er ganz oben auf der Leiter, umfaßte mit beiden Händen den Griff des großen Fleischermessers und bohrte die Klinge in das rote Plakat. Noch nie zuvor hatte ich jemanden mit solchem Ingrimm arbeiten sehen. Fetzen nach Fetzen segelte zu Boden, die helleren Farben der darunterliegenden Plakate wurden immer deutlicher sichtbar, und der für mich sichtbare Teil des Plakats sah bereits so verwüstet aus, daß man unwillkürlich an Vandalismus dachte. Ich stellte mich schlafend, als Frédéric zurückkam. Beim Frühstück sah ich an seinen geröteten

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