Der Klavierstimmer
Gesicht so roh und häßlich aussehen konnte. Du hast mich ausgelacht, wenn ich über eine ordinäre Wortwahl von Maman erschrak: Was denkst denn du, wie in einer Ballettschule geredet wird, besonders unter der Dusche! Es stimmt schon, ich wollte sie nicht wahrhaben, diese Seite von ihr. Nicht einmal jetzt.
«Man wisse nie, wann der Maestro zurückkomme, das könne in einer Stunde sein oder erst in einem Monat, sagte die Concierge in einem Ton, als verleihe diese Ungewißheit ihr ganz persönlich Macht. Ich wartete zunächst auf der Straße, später in einem Café gegenüber und schließlich auf dem Treppenabsatz vor dem Penthouse. Zuerst wollte die Concierge mich nicht hinauflassen. Doch mein Blick brachte sie zum Schweigen. Ich hätte die alte Vettel mit dem Stock verdroschen, und das wußte sie.»
In Mamans Gesicht wich die Wut dem Schmerz, und als sie weitersprach, kamen die Worte leise.
«Nachts lagen wir im Hotel nebeneinander, schlaflos bis in die frühen Morgenstunden. Den Brief mit dem Wappen der Grimaldis, sagte Frédéric einmal, den hätte er gerne Georges gezeigt. Er war immer Georges für ihn», sagte sie wie zu sich selbst,«nie hat er Papa gesagt oder grand-père , und GP , eure Abkürzung, mag er nicht. Ein anderes Mal in jener Nacht sprach er davon, der Leitung des Opernhauses Antonio für die Rolle des Michael Kohlhaas vorzuschlagen. Er habe beim Komponieren stets seine Stimme im Ohr gehabt. Ich bin zusammengezuckt, und einen schrecklichen Augenblick lang habe ich geglaubt, er kenne die Wahrheit. Diese Art von halsbrecherischem Humor ist ja typisch für ihn.»
Im allgemeinen stimmt das; aber ich glaube nicht, daß Vater in diesem Fall zu irgendeiner Art von Humor fähig gewesen wäre. Hätte er von der Erpressung gewußt - er hätte die Oper zurückgezogen. Oder er wäre ins andere Extrem verfallen und hätte den Italiener nun erst recht als seinen Kohlhaas hören wollen. Aber nicht aus Humor, sondern aus jenem urgewaltigen, gleichsam alttestamentarischen Zorn heraus, den wir so sehr fürchteten, weil wir ihn in seiner Maßlosigkeit nicht verstanden. (Es muß aus solchem Zorn heraus gewesen sein, daß er im Heim das Gesicht des Jungen, der einen Schwachen gequält hatte, in den Staub des Sportplatzes drückte. Erinnerst du dich an die roten Flecke, die wie durch Geisterhand auf seinem Gesicht erschienen, wenn er davon erzählte?)
«Der zweite Brief, der das Ende aller Hoffnung bedeutete, kam im Juni, zwei Tage vor Frédérics sechzigstem Geburtstag. Frédéric war im Geschäft, so daß ich es war, die das Kuvert aus dem Kasten nahm. Ich konnte fühlen, daß nur ein einziger Briefbogen drin war. Ich riß es auf und las die wenigen Zeilen: Es werde in diesem Jahr keine Preisverleihung und keine Aufführung geben - pour des raisons imprévues. Man bedaure das. Veuillez accepter, Monsieur, nos sentiments très distingués. Die Unterschrift war eine andere als beim letztenmal. Ob es sich um die Frau am Telefon handelte, wußten wir nicht; ihren Namen hatte Frédéric vergessen.
Das erste, woran ich in jenem Moment dachte, war Frédérics Zeigefinger, der auf dem ersten Brief den eingestanzten Buchstaben des fürstlichen Briefkopfs entlanggefahren war. Als stünde Frédéric neben mir, hörte ich seine Bemerkung über die Schönheit des Wappens. Es verging mehr als eine Stunde, bis ich die Kraft fand, ihn anzurufen. Währenddessen wählte ich alle paar Minuten Antonios Nummer in Monte Carlo. Es nahm niemand ab. Ich erwog zu warten, bis Frédéric abends heimkäme. Aber das hätte er nicht verstanden.
Es sei ein Brief aus Monaco angekommen, sagte ich, als er sich am Telefon meldete. Eine Ewigkeit lang sagte er nichts, und es kam mir vor, als hörte ich ihn stoßweise atmen.
‹Und?› fragte er schließlich tonlos.
Am besten komme er nach Hause, um es selbst zu lesen, sagte ich. Dieses Mal hörte ich genau, wie er Luft holte.
‹Es wird nichts aus der Aufführung›, sagte er.
Es war eine Feststellung ohne die geringste Spur eines fragenden Tonfalls. Das war das Schlimmste: daß Frédéric, noch bevor er den Text kannte, nur diese eine Möglichkeit zuließ. Nichts hätte die Größe seiner Enttäuschung, aber auch die Last seiner Vorahnung besser zum Ausdruck bringen können als die angespannte Sachlichkeit in seiner Stimme. Ich habe keine Ahnung, was ich im einzelnen sagte, ich weiß nicht einmal, ob es viel oder wenig war. Im Gedächtnis geblieben ist mir nur der verzweifelte Wunsch,
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