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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Nacht über, es bleibt trotzdem alles offen. Aber es stimmte nicht. Die Karten lagen im Schreibtisch, und sie ließen nichts mehr offen. Als ich in der Zelle auf der Pritsche lag, haderte ich mit dem Zufall. Warum hatten sie ausgerechnet für dieses Gastspiel die Seitenlogen freigegeben, für die man sonst keine Karten bekam! Chantal könnte noch am Leben sein.
    Wäre sie mir nur in den Arm gefallen! Im übertragenen Sinne, meine ich. Sie wurde mit jedem Tag stiller, und es gab Augenblicke, da wünschte ich, ich hätte ihr meinen Plan nie angekündigt. Sie stand jetzt immer am Fenster, wenn ich nach Hause kam. Sie war bleich, und ihr Haar war strähnig, dabei gab sie sich in letzter Zeit auf ihre scheue Art besondere Mühe, mir zu gefallen, aber das Haar blieb strähnig, sie konnte machen, was sie wollte. Ihre Augen hinter der Fensterscheibe wirkten erloschen, müde von den neuen Schmerzen, für die der Italiener verantwortlich war. Tagsüber im Geschäft spürte ich manchmal den Wunsch, meinen Plan fallenzulassen. Nicht weil der Haß schwächer geworden wäre. Aber es gab Momente, da sehnte ich mich nach Gleichgültigkeit, einer Gleichgültigkeit, die alles aufsaugen oder einebnen würde, ich weiß nicht, was das richtige Wort ist, Patrice wüßte es. Betäubend sollte sie sein, diese Gleichgültigkeit, wie das Ende des Lebens ohne Tod. Manchmal hielt diese Stimmung an, bis ich in die Limastraße einbog. Doch wenn ich dann Chantals erloschene Augen sah und die Strähnen, in denen so viel Vergeblichkeit lag, schämte ich mich meiner Schwäche und straffte mich im Inneren. Es ging nicht, daß sie immer mehr erlosch und niemand das Unrecht sühnte, das der Italiener ihr angetan hatte. Es ging nicht. Der Gedanke war unerträglich.
    Es war mir zuwider, Georges’ Kitschpistole mit dem schlüpfrigen Perlmuttgriff hervorzuholen. Ein Pistolengriff muß rauh sein. Aber es ist eine gute Waffe, ich habe einmal ein ganzes Magazin leer geschossen.»Über Papas Gesicht huschte das verschlagene Grinsen, das ich nicht mochte.«Es war gewagt, ich hätte mich blamieren können … Aber lassen wir das. Als ich sie reinigte, kam Chantal herein. Ich habe es mitten in der Nacht getan, ich wollte nicht, daß sie es sah; aber offenbar war ich nicht leise genug. Und dann habe ich in ihrer Gegenwart, es geschah ganz automatisch, probeweise entsichert. Sie fuhr zusammen und sah furchtbar verletzlich aus, wie sie da im Nachthemd und mit bloßen Füßen unter der Tür stand. Es kam mir vor, als hätte ich soeben auf sie geschossen.
    Eine Erinnerung, die mich jahrzehntelang nicht mehr heimgesucht hatte, überfiel mich. Ich war sieben, es war wenige Wochen, bevor Odile, meine Mutter, starb. Zum Geburtstag hatte ich mir eine Wasserpistole gewünscht, und meine Mutter hatte - das erfuhr ich später von Solange, der Großmutter - ganz Fribourg abgesucht, um die raffinierteste aufzutreiben, die zu haben war. Das Geld dafür muß sie aus der gelben Porzellanbonbonnière genommen haben, in die sie abends das Trinkgeld tat, das sie tagsüber erhalten hatte. Die Pistole sah einer wirklichen täuschend ähnlich, und ich fiel ihr um den Hals - etwas, was ich nur bei ihr tat und später im Leben nie wieder. Tagelang rannte ich herum und verspritzte Wasser, ich studierte den Druckpunkt des Abzugs und den Winkel, in dem man den gekrümmten Wasserstrahl abschießen mußte, um das Ziel zu treffen, es war eine Art Ballistik, und ich wurde perfekt darin. Eines Tages traf ich aus Versehen meine Mutter, der Wasserstrahl ging ihr direkt ins Auge. Im Bahnhofsbuffet fluchten sie, weil sie nicht zur Arbeit kam, und der Arzt nahm mich ins Gebet. Ich wünschte mir, tot zu sein, so verzweifelt war ich. Das Unglück mit der Pistole habe nicht das geringste mit ihrem Tod zu tun, versicherte Solange. Es sei die Lunge gewesen. Solange war immer gut zu mir gewesen, und ich wollte ihr glauben. Aber ganz wurde ich den Verdacht nie los, sie habe gelogen, um mich zu beruhigen.»
    Die neue Zigarette, Papa, drehtest du im Zeitlupentempo, und schließlich hörten die Finger auf sich zu bewegen. Deinen Blick, der schräg zu Boden ging, weit zurück in die Kindheit - ich werde ihn nie vergessen. Mit den Fingern der beiden Hände hieltest du die unfertige Zigarette, als nächstes würdest du das Papier zur Zungenspitze führen, doch alle Bewegung der Finger war eingefroren, die Zeit stand still, und wenn ab und zu ein Tabakkrümel zu Boden fiel, so geschah es außerhalb der Zeit. So

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