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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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werde ich dich in Erinnerung behalten: ein alter Mann im Anzug aus der Junggesellenzeit, eine unfertige Zigarette zwischen den derben Fingern, versunken in Bilder der Kindheit. Mein Vater. Ein rätselhafter Vater, wie sich bald zeigen sollte, als die Zeit nun weiterzufließen begann und du fortfuhrst.
    «Wo war ich? Ach ja, Chantal unter der Tür. Danach versteckte ich die Waffe, sie sollte sie erst in der Loge wieder sehen. Als ich im Polizeiwagen saß und sie mich trotz der Handschellen an den Oberarmen festhielten, als sei ich ein Gewaltverbrecher mit übermenschlichen Kräften, sah ich immer wieder Chantals Hände vor mir, wie sie die Waffe im Dunkel mit routinierten Bewegungen entsicherten. Es lag eine enorme Entschlossenheit in diesen raschen, zielsicheren Bewegungen. Das harte Geräusch fiel in ein paar leise Takte hinein und schien bis zu den gegenüberliegenden Rängen hinaufzuhallen. Doch nichts konnte Chantal mehr aufhalten. Eingequetscht zwischen den Polizisten, dachte ich: Das ist dieselbe Frau wie die im Nachthemd unter der Küchentür; ein und dieselbe Frau, man würde es nicht glauben.
    Am Dienstag, dem Tag der ersten Aufführung mit dem Italiener, regnete es in Strömen. Der Regen klatschte mir ins Gesicht, als ich auf der Straße stand und das Steinway-Haus ein letztes Mal betrachtete. Fünfzehn Jahre hatte ich hier gearbeitet. Wie viele Flügel mochte ich verkauft haben? Wie viele Klaviere? Es war damals ein gutes Angebot gewesen, ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. Dazu kam, daß ich aus dem Bannkreis von Georges hinauswollte, es sollte endlich Schluß sein mit Chantals Mittwochsbesuchen bei ihm, er war ein despotischer alter Mann, und ich mochte die Stimmung nicht, in der sie zurückkam.
    Doch wenn ich ehrlich bin: Noch wichtiger war der Name STEINWAY & SONS. Damals wie heute hatte er einen unerhörten Glanz, dieser Name, einen Glanz, der nie verblassen würde, einen Glanz der Ewigkeit. Ich meine nicht den gewöhnlichen Glanz, den weltweiten Ruhm von Steinway. Ich meine den ganz persönlichen Glanz, den diese Buchstabenfolge für mich hatte, seit ich sie zum erstenmal auf Pierres Flügel gesehen hatte. Pierre lehrte mich die richtige Aussprache und erzählte mir die Geschichte des Namens, auch den Streit zwischen Steinway und Grotrian-Steinweg. Er war so unglaublich elegant, dieser Name, genauso elegant wie der glänzende schwarze Lack. Der Glanz des Lacks war gewissermaßen in den Namen hineingegossen. Obwohl ich seine Herkunft nun kannte, kam es mir doch vor, als sei dieser einzigartig elegante Name aus keinem anderen Grund erfunden worden als dem, die Eleganz des schwarzglänzenden Lacks in goldenen Lettern darstellen zu können. Während der Klavierstunden, die mir Sophie gab, kam es nicht selten vor, daß ich ein Tonchaos anrichtete, weil ich statt auf die Noten auf die goldenen Lettern sah. Sophie schimpfte nie, sondern fuhr mir übers Haar. ‹Mon petit rêveur› , sagte sie. Als ich mein Praktikum bei Steinway in Hamburg machte und entdeckte, daß es auch mattschwarze Flügel gab, ja, daß man jede Farbe bestellen konnte, sogar Pink, da war ich so empört, daß die Kollegen lachten. Sie wußten eben nichts vom Wesen der tiefschwarzen Flächen, die sie jahraus, jahrein polierten. Nichts wußten sie davon. Nichts.
    Daß ich das Steinway-Haus nie mehr würde betreten können, war nicht so schlimm, obwohl ich die Kollegen mochte, vor allem Liebermann, der freilich nicht viel mit mir anzufangen wußte, es ging ihm da wie vielen Leuten, die ich mochte. Schlimmer war, daß ich nie mehr einen Flügel würde sehen und berühren können. Bevor ich am Tag darauf dieses Zimmer hier, wie ich dachte, für immer verließ, fuhr ich mit der Hand die geschwungene Form des Flügels entlang. Ich wollte, daß ich diese Linie im Gefängnis jederzeit vor das innere Auge zaubern konnte. Sie würde mir über vieles hinweghelfen.
    Unser Haus an der Limastraße. Ich stand davor, unsichtbar für Chantal, das Wasser floß in Bächen aus der Dachrinne. Würde ich es danach noch einmal betreten? Wenn sie mich, wie üblich, nach fünfzehn Jahren freiließen, wäre ich fünfundsiebzig. Ich mochte nicht daran denken, das war jenseits aller Zeit. Unser Haus, es sah an diesem regnerischen Abend fremd aus. Viel zu groß und viel zu teuer. War es jemals wirklich unser Haus gewesen? Oder war es stets die Berliner Villa geblieben, die Georges de Perrin seiner Tochter gekauft hatte?
    Wie ich da stand, hatte ich auf

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